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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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trocken.
    5
    In der Mercedes Street zu wohnen war keine erhebende Erfahrung.
    Die Tage waren nicht so schlimm. Sie hallten vom Geschrei von Kindern wider, die gerade aus der Schule kamen, alle in übergroßen abgelegten Klamotten; dazu kamen Hausfrauen, die an Briefkästen oder Wäscheleinen tratschten, und Teenager, die in Rostlauben vorbeibretterten, deren Auspuff mit Glaswolle gestopft war und aus deren Radios K-Life plärrte. Auch die Stunden zwischen zwei und sechs Uhr morgens waren nicht so schlimm. Dann sank eine Art benommener Stille auf die Straße herab, wenn Säuglinge mit Koliken endlich in ihren Bettchen (oder Kommodenschubladen) schliefen und ihre Daddys einem weiteren Tag mit Lohnarbeit in Werkstätten, in Fabriken oder auf Farmen in der Umgebung entgegenschnarchten.
    Aber zwischen vier und sechs am Nachmittag waren auf der Straße die Stimmen von Mamas zu hören, die ihre Kinder ankeiften, sie sollten verdammt noch mal reinkommen und im Haus mithelfen, und die von Papas, die beim Heimkommen ihre Frauen anbrüllten, vermutlich weil sie sonst niemand hatten, den sie anbrüllen konnten. Viele Ehefrauen teilten so gut aus, wie sie einstecken mussten. Die Trinkerdaddys waren etwa ab acht Uhr unterwegs, und wirklich laut wurde es gegen elf, wenn die Bars schlossen oder das Geld ausging. Dann hörte ich Türenknallen, zersplitterndes Glas und Schmerzensschreie, wenn manche der Trinkerdaddys ihre Frauen oder Kinder oder alle zusammen verprügelten. Oft drang rotes Blinklicht durch meine Vorhänge, wenn die Polizei kam. Einige Male fielen Schüsse – vielleicht nur in die Luft, vielleicht auch nicht. Als ich eines Morgens früh aus dem Haus trat, um die Zeitung zu holen, sah ich eine Frau, deren untere Gesichtshälfte mit angetrocknetem Blut bedeckt war. Sie hockte vor dem übernächsten Haus auf dem Randstein und trank aus einer Dose Lone Star. Ich wäre fast hinübergegangen, um nach ihr zu sehen, obwohl ich wusste, wie unklug es gewesen wäre, sich in den Alltag dieses Proletenviertels hineinziehen zu lassen. Dann merkte sie, dass ich sie beobachtete, und zeigte mir ihren Mittelfinger. Ich ging wieder hinein.
    Hier gab es keine Begrüßungsgeschenke für Neuzuzügler und keine Frauen namens Muffy oder Buffy, die zu Versammlungen der Junior League unterwegs waren. Was es in der Mercedes Street gab, war reichlich Zeit zum Nachdenken. Zeit, meine Freunde in Jodie zu vermissen. Zeit, meine Arbeit zu vermissen, die mich vom eigentlichen Zweck meiner Reise in die Vergangenheit abgelenkt hatte. Zeit zu erkennen, dass das Unterrichten weit mehr als nur ein Zeitvertreib gewesen war; es hatte mich auf eine Weise geistig befriedigt, wie es Arbeit tat, bei der man mit dem Herzen dabei war, weil man das Gefühl hatte, tatsächlich etwas bewirken zu können.
    Ich hatte sogar Zeit, den Zustand meines früher so schicken Sunliners zu bedauern. Zu dem defekten Radio und den klappernden Ventilen kamen jetzt ein scheppernder durchgerosteter Auspuff, der Fehlzündungen verursachte, und ein Sprung in der Windschutzscheibe von einem Stein, den ein schwerfälliger Kieslaster verloren hatte. Ich hatte aufgehört, mein Cabrio zu waschen, und inzwischen passte es – traurig, aber wahr – sehr gut zu den übrigen Klapperkisten in der Mercedes Street.
    Vor allem hatte ich Zeit, an Sadie zu denken.
    Sie brechen dieser jungen Frau das Herz, hatte Ellie Dockerty gesagt, und meinem ging es auch nicht besonders. Auf die Idee, Sadie alles anzuvertrauen, kam ich eines Nachts, als ich wach lag und die betrunkenen Nachbarn streiten hörte: Das warst du, ich war’s nicht, das warst du, ich war’s nicht, leck mich. Ich verwarf die Idee, aber in der folgenden Nacht kehrte sie verjüngt zurück. Ich konnte mich sehen, wie ich an ihrem Küchentisch saß, in der starken Nachmittagssonne, die schräg durchs Fenster über der Spüle hereindrang, Kaffee trank und ganz ruhig sprach. Ihr erzählte, dass ich in Wirklichkeit Jacob Epping heiße, erst in vierzehn Jahren geboren werden würde und durch einen Riss in der Zeit, den mein verstorbener Freund Al Templeton als Kaninchenbau bezeichnet habe, aus dem Jahr 2011 hierhergekommen sei.
    Wie konnte ich sie von einer derart unglaublichen Sache überzeugen? Indem ich ihr erzählte, dass ein bestimmter amerikanischer Überläufer, der Russland jetzt mit anderen Augen sah, bald mit seiner russischen Frau und ihrem kleinen Mädchen mir gegenüber einziehen würde? Indem ich ihr erzählte, dass die Dallas

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