Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
geblieben.
Wie sehr hätten sie unser Mitgefühl verdient! Doch nur zu gut sehen sie, woran sie gelitten haben, und gar nicht – woran sie schuldig geworden sind.
Bis 1937 wurde ihresgleichen nicht eingesperrt. Und nach 1938 sehr selten geholt. Das «Aufgebot von 1937» nennt man sie darum, was gar nicht falsch ist, sofern man, um das Gesamtbild nicht zu verzerren, stets hinzufügt, daß auch in den Spitzenmonaten dieses Jahres nicht nur sie allein hinter Gitter kamen, daß da gleicherweise Bäuerlein, Arbeiter und Jugendliche, Ingenieure und Techniker, Agrar-und Wirtschaftsfachleute und schlicht Gläubige in die Lager einzogen.
Das «Aufgebot von 1937» ist sehr gesprächig, es hat Zugang zu Presse und Rundfunk und setzte bald die «Legende vom Jahr 1937» in die Welt, eine aus zwei Punkten bestehende Legende:
a) wenn unter der Sowjetmacht überhaupt jemals eingesperrt wurde, dann nur im Jahr 1937, und nur das Jahr 1937 verdient Erwähnung und Empörung;
b) eingesperrt wurden 1937 nur sie.
Am Anfang unseres Buches haben wir bereits über den Umfang der Ströme berichtet, die sich in den zwei Jahrzehnten vor dem Jahr 1937 auf den Archipel ergossen. Wie lange das schon ging! Wie viele Millionen das ausgemacht hat! Doch das künftige Aufgebot von 1937 ließ sich darob keine grauen Haare wachsen, dieses Vorgehen fanden sie durchaus normal.
Natürlich vergaßen sie gern, wie sie Stalin noch vor gar nicht langer Zeit selber geholfen hatten, die verschiedenen Oppositionen zu zerschlagen, zu denen sie mitunter selber zählten. Denn ein Spielchen war’s für Stalin, an dem er Gefallen fand: seinen willensschwachen Opfern die Möglichkeit zum Wagnis, zum Aufbegehren nicht ganz zu verbauen. Der Tiger hatte gewisse Spielregeln erfunden, und dazu gehörte auch, daß für die Verhaftung eines jeden ZK-Mitglieds das Plazet aller übrigen eingeholt werden mußte. Da saßen sie also bei ihren leer dahinplätschernden Plenartagungen und Beratungen, ein Blatt Papier wurde durch die Reihen gereicht, worauf lapidar geschrieben stand, daß gegen Person XY belastendes Material vorliege und die Zustimmung (oder Nichtzustimmung) zu seinem Ausschluß aus dem ZK erforderlich sei. (Und irgendein Dritter hielt sicherlich Ausschau, ob der Lesende das Blatt nicht zu lange in den Händen hielt.) Und jeder unterschrieb. Auf diese Weise vollzog das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei die eigene Exekution. (Stalin aber hat eines jeden Schwäche schon früher erraten und getestet; In dem Augenblick, da die Parteispitze die hohen Gehälter, die geheime, bevorzugte Versorgung, die Funktionärssanatorien als etwas ihr Zustehendes akzeptiert hatte – saß sie auch schon in der Falle, war ihr der Weg zurück versperrt.)
Um so leichter fiel ihnen demnach das Vergessen, wenn es um ganz alte Geschichten ging, so etwa um das (von ihnen ohnehin kaum gelesene) Sendschreiben des Patriarchen Tichon an den Rat der Volkskommissare vom 26. Oktober 1918. Um Gnade und Freiheit für unschuldige Menschen bittend, hat es der standhafte Patriarch auch an Mahnungen nicht fehlen lassen: «Es wird gefordert werden aller Gerechten Blut, das von euch vergossen ist (Lukas 11,50–51), und durchs Schwert soll umkommen, wer das Schwert genommen (Matthäus 26,52).» Doch lächerlich, unmöglich klang es damals! Wie hätten sie sich’s denken sollen, damals, daß die Geschichte mitunter trotz allem Vergeltung übt in einer Art wollüstiger später Gerechtigkeit, für die sie allerdings seltsame Formen und unerwartete Vollstrecker auszuwählen beliebt.
Und weil die Verwünschungen der Frauen und Kinder, die im Frühjahr 1921, wie uns Maximilian Woloschin berichtet, auf der Krim erschossen wurden, nicht imstande waren, das Herz des Béla Kun zu treffen – wurde dies durch seine Genossen von der III. Internationale besorgt.
Hier die Art Moral, die sie folgerichtig predigen: Ich sitze für nichts, bin ein guter Mensch demnach, aber alle anderen ringsum sind Feinde und haben das Sitzen verdient.
Hier die Art Energie, die sie entwickeln: Sie schreiben sechs-, zwölfmal im Jahr Beschwerden, Erklärungen und Bittgesuche nach überallhin. Worüber denn? Was kritzeln sie aufs Papier? Na freilich: Dem Großen und Genialen schwören sie die Treue (sonst kommt man ja nicht frei). Natürlich: Von den bereits erschossenen Prozeßkameraden sagen sie sich los. Natürlich: Um Verzeihung flehen sie und um die Erlaubnis, nach dorthin, nach oben zurückkehren zu dürfen. Morgen
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