Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
meistenteils hohe Posten, erstrebenswerte Positionen inne, schmerzlicher als andere traf sie im Lager der Gedanke an Untergang; mit schierer Verbissenheit klammerten sie sich an jeden Halm, der sie über dem allgemeinen Null-Niveau zu halten versprach. Alle eingesperrten Untersuchungsrichter, Staatsanwälte, Richter und einstigen Lagernotabeln gehörten zu dieser Sorte. Und alle Theoretiker, Zitatedrescher und Redenschwinger.
Verstehen wollen wir, nicht sticheln. Der Absturz war schmerzlich für sie. «Wo gehobelt wird, fallen Späne» – als muntere Rechtfertigung hatten sie die Sentenz benützt. Doch plötzlich waren sie’s, die man zu Spänen hobelte.
Sagen, daß es sie schmerzte, heißt, fast gar nichts sagen. Nicht zu bewältigen war für sie solch ein Schlag, solch ein Niedergang – von den eigenen Leuten versetzt, von den eigenen Leuten verursacht, von der teuren Partei, und allem Anschein nach wegen nichts. Haben sich doch nichts zuschulden kommen lassen gegenüber der Partei, nein, gar nichts – gegenüber der Partei.
Es schmerzte sie so sehr, daß es in ihren Kreisen als verboten, als unkameradschaftlich galt, jemanden zu fragen: «Warum hat man dich eingesperrt?» Die einzige derart zimperliche Sträflingsgeneration war es gewesen! Uns sei’s gesagt, die wir 1945 vor jedem erstbesten die Geschichte unserer Verhaftung ausbreiteten – ungeniert, wie einen Witz, grad, daß wir uns vor Eifer nicht in die Zunge bissen.
Was waren sie? Ein besonderer Menschenschlag! Der Olga Sliosberg hatten sie bereits den Mann wegverhaftet, kamen nun, das Haus zu durchsuchen und sie selber mitzunehmen. Vier Stunden dauerte die Haussuchung – und Olga? Olga brachte in diesen vier Stunden die Protokolle eines Stachanow-Kongresses der Bürstenindustrie in Ordnung, bei dem sie noch tags zuvor als Sekretärin tätig gewesen war. Der ungebührliche Zustand der Protokolle bekümmerte sie mehr als die zurückbleibenden Kinder! Am Ende war’s sogar dem Untersuchungsrichter zuviel, so daß er ihr riet, sich doch noch von den Kindern zu verabschieden.
Ein besonderer Menschenschlag … Jelisaweta Zwetkowa erhielt 1938 im Kasaner Sitzgefängnis einen Brief von ihrer fünfzehnjährigen Tochter: «Mama! Sag mir, schreib mir: Hast Du was Schlimmes getan oder nicht? … Lieber möchte ich, daß Du unschuldig bist, dann trete ich nicht dem Komsomol bei und werde es ihnen nie verziehen. Aber wenn Du schuldig bist, will ich Dir nie wieder schreiben, dann werde ich Dich hassen.» Und die Mutter in der feuchten, grabesähnlichen Zelle mit der schwach blinzelnden Birne an der Decke vergeht vor Gewissensqualen: Soll die Tochter ohne Komsomol aufwachsen? Soll sie die Sowjetmacht hassen? Nein, dann schon lieber mich. Sie schreibt: «Ich bin schuldig … Tritt dem Komsomol bei!»
Und ob es schwer ist! Schier unterträglich ist es fürs menschliche Herz: unter dem eigenen Parteibeil stehend, auch noch dessen Vernünftigkeit zu rechtfertigen.
Doch so hoch ist nun mal der Preis, den der Mensch dafür bezahlt, daß er die Seele, mit der ihn der Herrgott ausgestattet, einem menschlichen Dogma verschreibt.
Jeder linientreue Parteimann wird auch heute noch bestätigen, daß die Zwetkowa richtig gehandelt hat. Auch heute noch wird man seinesgleichen nicht davon überzeugen können, daß sie sich «an dieser Geringsten einer» versündigt hat, sie, die die Seele der Tochter verdarb.
Ein besonderer Menschenschlag … J. T. belastete freimütig ihren Ehemann – bloß um der Partei zu helfen.
Oh, wie sehr könnte man sie bedauern, wenn sie wenigstens jetzt ihre damalige Jämmerlichkeit begriffen!
Dieses ganze Kapitel könnte anders geschrieben werden, wenn sie wenigstens heute ihre damaligen Ansichten abzulegen bereit wären!
War’s Treue? Unsereins sagt lieber: «Den bringt auch der Knüppel nicht zur Räson.» Die in die Evolutionstheorie Eingeweihten vermeinten ihre Evolutionstreue darin zu erkennen, daß sie auf jede eigene Entwicklung verzichteten. Nikolai Adamowitsch Wilentschik, der siebzehn Jahre abgesessen hatte, sagte es unumwunden: «Wir haben an die Partei geglaubt – und haben uns nicht geirrt !» War’s Treue oder – «den bringt auch der Knüppel nicht zur Räson»?
Nein, nicht zum Schein, nicht aus Heuchelei nahmen sie bei den Zellendebatten alle Maßnahmen der Machtbeflissenen in Schutz. Sie brauchten den ideologischen Streit, um am Glauben nicht irre zu werden, denn es wäre ihnen sonst bis zum Wahnsinn nur ein Schritt
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