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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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vor der Brust zu tragen, dazu war’s zu schwer, wollt ihm schier das Rückgrat brechen. Schließlich kam ihm eine Idee: Er nahm seinen Hosengurt, machte eine Schlinge, warf sie dem Stalin um den Hals und trug ihn huckepack durchs Dorf. Na, ein klarer Fall, wer wollte das bestreiten? § 58, 8, zehn Jahre (Terror).
    Ein Hirte schimpfte eine störrische Kuh wütend «Kolchosnutte». § 58, Lagerhaft.
    Ein taubstummer Zimmermann, ja, ja, wurde wegen konterrevolutionärer Agitation verknastet. Wie das? Er legte den Boden im Klub. Aus dem großen Saal war alles fortgetragen worden, keinen Nagel, keinen Haken fand er in der Wand – und warf, weil ihm beim Arbeiten warm geworden war, den Rock und die Mütze über die allein übriggebliebene Leninbüste. Jemand sah zur Tür rein. § 58, zehn Jahre.
    Ein Rudel Kinder tobte im Kolchosklub und riß beim Herumrennen irgendein Plakat von der Wand. Die zwei ältesten bekamen nach § 58 eine Frist verpaßt (laut Ukas vom Jahre 1935 hatten Kinder von zwölf Jahren aufwärts die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit für jede Art Verbrechen zu tragen!). Die Eltern blieben auch nicht ungeschoren: Muß ja wer die Kinder aufgehetzt und abgerichtet haben.
    Ein sechzehnjähriger Schuljunge vom Volk der Tschuwaschen machte einen Fehler in der Losung der für ihn fremdsprachigen russischen Wandzeitung. § 58, fünf Jahre.
    Eine Losung hing auch in der Buchhaltung eines Kolchos: «Das Leben wurde besser, das Leben wurde fröhlicher (Stalin).» Jemand schrieb mit rotem Stift ein «u» an Stalin dran, halt den Dativ: daß es dem Stalin nun besser ginge. Nach dem Schuldigen wurde nicht geforscht, man sperrte die ganze Buchhaltung ein.
    Irina Tutschinskaja wurde verhaftet, als sie die Kirche verließ (die ganze Familie war für die Verhaftung vorgemerkt); sie habe «um Stalins Tod gebetet», hieß es in der Anklageschrift (wer hat jenes Gebet belauschen können?) – Terror! Fünfundzwanzig Jahre.
    Nebenbei gesagt, bestand an solchen phantastischen Anklagen meist gar kein Bedarf. Es gab ein einfaches Standardsortiment von Anklagen, aus denen der Untersuchungsrichter ein, zwei Punkte auswählen und einem, wie Marken auf den Briefumschlag, aufkleben konnte:
Diskreditierung des Generalissimus;
negative Haltung gegenüber der Kolchosordnung;
negative Haltung gegenüber den Staatsanleihen (doch welcher normale Mensch stand ihnen positiv gegenüber?);
negative Haltung gegenüber der Stalinschen Verfassung;
negative Haltung gegenüber einer (gerade anlaufenden) Aktivität der Partei;
Sympathien für Trotzki;
Sympathien für die Vereinigten Staaten;
und so weiter und so fort.
    Das Aufkleben dieser verschiedenwertigen Marken war eine eintönige Arbeit, die keinerlei Kunstfertigkeit erforderte. Dem Untersuchungsrichter mußte nur rasch das nächste Opfer angeliefert werden, damit er keine Zeit verlor. Die Aushebung der Opfer besorgten aufgrund entsprechender Sollziffern die Einsatzbevollmächtigten der Bezirke, Truppenteile, Transportabteilungen, Lehranstalten. Zum Glück mußten sich auch die Einsatzbevollmächtigten ihre Köpfe nicht zerbrechen: Die Denunzianten eilten ihnen zu Hilfe.
    Im Kampf der freien Menschen untereinander war das Verpfeifen eine Superwaffe, eine Art von X-Strahlen: Es genügte, das unsichtbare Strahlenbündel auf den Feind zu richten – schon fiel er um. Der Mechanismus versagte nie. Ich habe mir für solche Beispiele keine Namen gemerkt, stehe aber voll dafür ein, daß ich im Gefängnis viele Erzählungen zu hören bekam, die die Ausnutzung einer Anzeige bei Liebesaffären bezeugten: etwa, wie ein Mann sich der Ehegefährtin entledigte, wie die Ehefrau eine Rivalin oder die Geliebte eine Ehefrau aus dem Weg schaffte, oder umgekehrt, wie eine Freundin am Geliebten dafür Rache nahm, daß er sich von der Frau nicht losreißen ließ.

    Europa wird es natürlich nicht glauben. Solange es selbst nicht sitzen muß, wird es nicht daran glauben. Europa hat unseren Kunstdruckpapier-Zeitschriften Glauben geschenkt, für mehr reicht’s nicht.

11
Die Loyalisten
    Unsere Betrachtungen hier sollen genau jenen Parteileuten gelten, die ihre Gesinnungsfestigkeit zuerst gegenüber dem Untersuchungsrichter hervorkehrten, später in den Gefängniszellen und im Lager jedem und allen damit in den Ohren lagen und nun ihre Lagererinnerungen in dieser Färbung präsentieren.
    Einer seltsamen Auslese zufolge werden sich keine Arbeitsleute darunter finden. Diese Art Seki hatte vor der Verhaftung

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