Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Verteilungsstelle zu zitieren, wo die neuen Strafanweisungen zur Unterschrift bereitlagen. (Wer sich weigerte, bekam den Karzer, nicht mehr als fürs Rauchen am verbotenen Ort. Obendrein erklärten sie einem klipp und klar: «Sie unterschreiben ja nicht, daß sie schuld sind, bloß daß Sie in Kenntnis gesetzt wurden.») An der Kolyma hielten sie’s mit den Zehnern so, an der Workuta ging es noch mildtätiger zu: Acht und fünf Jahre auf Beschluß der OSO. Müßig wäre jede Weigerung gewesen: Als ob sich acht Jahre in der finsteren Unendlichkeit des Archipels im geringsten von achtzehn unterschieden und der Zehner am Anfang von einem Zehner am Ende? Wichtig war einzig und allein, daß sie nicht jetzt schon ihre Krallen in deinen Körper schlugen.
Aus unserer heutigen Sicht ergibt sich folgendes Bild: Die 1938 ausgebrochene Epidemie der Lagerurteile ging auf eine obrigkeitliche Weisung zurück. Dort oben war man plötzlich draufgekommen, daß die Strafen bislang zu mild ausgefallen seien und eine Draufgabe vertrügen (bis hin zur Erschießung), wodurch zugleich eine Einschüchterung der Übriggebliebenen zu erreichen wäre.
Zu den Lagerfrist-Epidemien der Kriegsjahre hat hingegen auch von unten manch eifriges Herz sein Scherflein beigetragen, Merkmale von Volksinitiative lassen sich darin erkennen. Von oben war man wahrscheinlich angewiesen worden, in Anbetracht des Kriegszustandes die markantesten Persönlichkeiten in den Lagern niederzuzwingen und zu isolieren, somit potentielle Zentren möglicher Revolten auszuschalten. Die blutigen Gesellen unten witterten sofort die Ergiebigkeit dieser Goldader und holten für sich – die Rettung vor der Front heraus. Die Erkenntnis muß wohl zugleich in mehreren Lagern aufgeblitzt sein und wurde, nützlich, klug und lebensrettend, flugs in Taten umgesetzt. Auch die Lager-Tschekisten standen im Feuer, bloß daß sie fremde Leiber vor die Schießscharten warfen.
Der Historiker möge sich in die Stimmung jener Zeit versetzen: Die Front weicht zurück, die Deutschen stehen rund um Leningrad, vor Moskau, in Woronesch, an der Wolga, im Vorgebirge des Kaukasus. Im Hinterland werden die Männer immer rarer, jede gesunde männliche Gestalt zieht vorwurfsvolle Blicke an. Alles für die Front! Kein Preis ist der Regierung zu hoch, um Hitler zum Stehen zu bringen. Und nur die Lageroffiziere (freilich auch ihre GB-Kumpane) sitzen, die piekfeinen, vollgefressenen und unbeschäftigten Mannsbilder, auf ihren Hinterlandsposten fest und fühlen sich um so sicherer, je tiefer ihr Lager in Sibirien, je höher es im Norden liegt. Trotzdem sind nüchterne Überlegungen am Platz, das wohlige Nichtstun ist allemal nur auf Abruf gewährt. Dann würde es heißen: «Holt sie mal her, die pausbäckigen, anstelligen Lagerleutchen! Wie, keine Kampferfahrung? Was tut’s, die Ideentreue genügt.» Wenn’s zur Miliz, zu den Sicherungstruppen ginge, wär’s schlimmstenfalls noch zu ertragen, aber: zu den Offiziersbataillonen?! nach Stalingrad?! Im Sommer 1942 wurden ganze Offiziersschulen auf diese Weise aufgelöst und die Burschen ohne Rang und Sold an die Front geworfen. Alle jungen und gesunden Soldaten sind längst aus den Wachmannschaften herausgeputzt worden, nitschewo, die Lager stehn wie eh und je. Würden demnach auch ohne die Gevatter nicht auseinanderbröckeln! (Es wird schon so was gemunkelt.)
Wer vom Wehrdienst befreit ist, darf leben: Wie bewahren wir uns dieses Glück? Ein einfacher, natürlicher Gedanke: Indem wir unsere Nützlichkeit beweisen! Indem wir beweisen, daß die Lager ohne tschekistische Oberaufsicht in die Luft flögen, wie denn nicht, diese Kessel voll brodelndem Teer? Und dann wäre es um die Front geschehen! Denn just hier, in den über Tundra und Taiga verstreuten Lagerpunkten wehren wir, die unbefleckten Einsatzbevollmächtigten, Hitlers Fünfte Kolonne ab! Es ist unser Beitrag zum Sieg! Selbstlos und opferbereit spüren wir den Feinden nach und decken, Verhör um Verhör, immer neue Verschwörungen auf.
Bislang haben nur die unglücklichen, ausgemergelten Lager-Seki um das Leben gekämpft, indem sie einander den Bissen Brot aus den Zähnen rissen. Jetzt schalten sich die gewissenlosen und mit allen Machtbefugnissen ausgestatteten Spürhunde der III. Abteilung in diesen Kampf ein. «Krepier du heute, ich aber morgen!» Denn durch dein, du Stinktier, Krepieren wird mein Untergang aufgeschoben.
Herrje! Seht mal! In jedem Lager fliegen Verschwörungen auf! Und eine jagt
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