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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Und brauchen nur anzuführen, wen Sie dafür halten!» Da schwitzt er nun und zappelt, der gute, ehrliche A. G. in seiner Qual, das Karnickel mit der allzu weichen, noch vorrevolutionären Seele. Für bare Münze nimmt er den Stoß, den sie gegen ihn führen: Nenne die Sowjetischen oder nenne die Antisowjetischen! Er sieht keinen dritten Weg.
    Ein Stein ist kein Mensch und wird doch auch gehöhlt.

    Aufgeklärt und gar nicht gläubig, kam U. am Ende zu dem Schluß, daß er keinen besseren als Christus fände, um die Meute loszuwerden. Allzu anständig war es nicht vom moralischen Standpunkt, dafür aber unfehlbar. Er log: «Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich eine christliche Erziehung genossen habe. Eine Zusammenarbeit mit Ihnen ist für mich darum gänzlich ausgeschlossen!»
    Und – basta! Und dem Leutnant blieb nach mehrstündigem Geplapper das Wort im Mund stecken! Er begriff, daß der Kassenschrank leer war. «Ach, wir brauchen Sie wie’s fünfte Rad am Wagen!» fuhr er gereizt auf. «Geben Sie mir Ihre Weigerung schriftlich! [Wieder schriftlich!] Ja, ja, schreiben Sie es hin, vom lieben Gott und so!»
    Wird wohl Vorschrift gewesen sein, jeder Spitzelakte ein Schlußblatt beizuheften. Die Berufung auf Christus stellte auch den Leutnant zufrieden: Kein Vorgesetzter würde ihm den Vorwurf machen, daß da doch noch was zu holen gewesen wäre.
    Will es einem unparteiischen Leser nicht gar scheinen, daß sie vor Christus auseinanderstieben wie die Geister der Hölle vor dem geschlagenen Kreuz, vor dem Glockengeläut zur Morgenandacht?
    Eben deshalb wird unser Regime niemals mit dem Christentum zusammenfinden.

13
Die zweite Schur
    Kann man einen Menschen enthaupten, dem man schon mal den Kopf abgeschlagen? Jawohl! Kann man ihm das Fell abziehen, das man schon mal abgezogen? Jawohl!
    Dieses alles wurde in unseren Lagern erfunden! Dies alles auf dem Archipel ersonnen! Man sage uns darum nicht, daß die Brigade unser einziger Beitrag zur internationalen Bestrafungskunde sei. Und die zweite Lagerfrist – ist sie ein Pappenstiel? Die Ströme, die von außen hereinstürzen, dürfen nicht ruhig auseinanderfluten auf dem Archipel, nicht im offenen Gelände verrinnen, nein, sie werden nochmals durch die Rohre der Zweitverfahren gepumpt.
    Gesegnet seien jene hartgesottenen Tyranneien, jene Despotien, jene unaufgeklärten Länder der Wildnis, in denen ein Verhafteter nicht wiederverhaftet! in denen ein Verurteilter nicht von neuem verurteilt! in denen ein Eingekerkerter zu nichts Schlimmerem als zum Sitzen gezwungen werden kann!
    Bei uns jedoch ist all dies möglich. Denn es gibt nichts Leichteres als das: einen zu Boden geworfenen, unwiderruflich verlorenen Menschen mit dem Knüppel über den Kopf zu schlagen! Die Ethik unserer Kerkermeister heißt: Tritt den Liegenden! Die Ethik unserer Einsatzbevollmächtigen: Pflastere mit Leichen deinen Weg!
    Man darf als gegeben annehmen, daß die Lagerverfahren und Lagerprozesse ebenfalls auf den Solowki geboren wurden, wo man die Delinquenten allerdings einfach unter den Glockenturm geführt und mit den tödlichen neun Gramm versehen hat. Erst während der Fünfjahrespläne und der Metastasenbildung kamen statt der Kugel die zweiten Lagerfristen in Schwang.
    Ja, wie hätte man denn auskommen sollen ohne zweite (dritte, vierte) Frist, wie die dazu Auserkorenen im Schoße des Archipels verschwinden lassen und wie sie vernichten können?
    Die Regeneration der Fristen ist, wie das Nachwachsen des Eidechsenschwanzes etwa, eine Lebensform des Archipels. Solange unsere Lager unter der Knute stöhnen, solange unsere Verbannung sich in Eis und Schnee hinschleppt – schwebt dieses pechschwarze Unheil über den Köpfen der Verurteilten: die zweite Frist, die du dir holst, ehe die erste um ist. Die zweiten Lagerfristen wurden in allen Jahren ausgeteilt, am reichlichsten jedoch 1937/38 und während des Krieges. (1948/49 wurde das Schwergewicht der zweiten Fristen auf das freie Draußen verlegt: Da waren ihnen die noch im Lager Wiederzuverknastenden durch die Lappen gegangen, sie hatten zu viele freigelassen und mußten sie nun einfangen. Dieses Kontingent nannte man Wiederholer, für die lagereigenen Zweitfristler fand sich nicht einmal ein Name.)
    Eine Art Barmherzigkeit, eine maschinelle, lag nachgerade darin, daß 1938 die zweiten Fristen ohne zweite Verhaftung, ohne Verhöre, ohne Lagerprozesse zugeteilt wurden; man begnügte sich damit, die Leute brigadeweise in die Erfassungs-und

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