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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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treffen? Und ob sie das kann! In der Baracke brennt ein Ofen, in der Baracke wird die volle Ration verteilt, aber oha! Plötzlich kommt der Aufseher herein und packt dich grob am Fuß: «Aufstehen! Fertigmachen!» Ach, wie schwer es dir fällt! … Menschen, Menschen, ich liebte euch …

14
Dem Schicksal einen Stoß geben
    Unmöglich ist es, sich in dieser schauerlichen Welt zu behaupten. Selbstmörderisch – zu streiken. Nutzlos – zu hungern.
    Zu sterben aber haben wir allemal noch Zeit.
    Was bleibt demnach dem Sträfling? Die Flucht! Die Suche nach dem anderen Los !
    Tschechow meint, daß ein Häftling, sofern er nicht ein Philosoph ist, der sich überall wohl fühlt (oder, sagen wir: die Fähigkeit zur inneren Einkehr besitzt), nicht umhin kann, ans Ausbrechen zu denken, mehr noch: den Willen dazu in sich wachhalten muß !
    Ein Muß ist die Freiheit für ein freies Herz, ein Muß der Gedanke an Flucht. Die Einwohner des Archipels sind freilich nicht aus solchem Holz geschnitzt, zaghaft sind sie und duckmäuserisch. Doch auch unter ihnen gibt es immer Menschen, die einen Fluchtplan aushecken, ihn über kurz auch in die Tat umsetzen wollen. Die ständigen Ausbrüche, einmal da, einmal dort, sind, selbst wenn sie mißlingen, ein sicherer Beweis dafür, daß die Energie des Sek-Volkes noch nicht am Versiegen ist.
    Hier eine Zone. Sie ist gut bewacht, hat einen festen Zaun, eine gut angelegte Vorzone und richtig verteilte Wachttürme: Jedes Fleckchen ist mit dem Auge zu erfassen, mit der Kugel zu erreichen. Aber du, du wirst plötzlich von bleierner Trübsal übermannt, glaubst es nicht mehr ertragen zu können, daß es dir just auf diesem Flecken umzingelter Erde beschieden sein soll zu sterben. Warum nicht dein Glück versuchen? Ein Sprung – und dein Schicksal würde sich wenden. Am Anfang der Haftzeit, im ersten Jahr, ist dieser Freiheitsdrang besonders stark, ja sogar ungezügelt; in jenem ersten Jahr, das über die Zukunft des Häftlings entscheidet und sein ganzes Wesen prägt. Später erlahmt die Sehnsucht irgendwie, schon bist du nicht mehr sicher, ob du es draußen besser hättest, die Bindungen zur Außenwelt werden schwächer, das Brennen, das in deiner Seele war, geht in stilles Glimmen über: Allmählich lebst du dich in den Lagertrott ein.
    Ausbrecher hat es offensichtlich in allen Lagerjahren gegeben. Hier eine mir zufällig bekannt gewordene Zahl: Allein im März 1930 sind 1328 Personen aus den Haftverbüßungsorten der Russischen Föderation geflohen. (Wie unbemerkt und lautlos es doch in unserer Gesellschaft geschah!)
    Die gewaltige Ausbreitung des Archipels nach 1937 und insbesondere der Krieg, der alle gefechtstauglichen Schützen an die Fronten holte, führte zu einer Verknappung des Wachpersonals, und auch mit der Selbstbewachung, diesem bösen Einfall, kamen die Oberanordner nicht immer über die Runden. Zumal sie gleichzeitig immer größere wirtschaftliche Profite aus den Lagern herauszupressen sich bemühten, darum gezwungen waren, zu expandieren und, weil’s vor allem um die Holzgewinnung ging, immer tiefer in die Wälder vorzudringen, Außenstellen und Sub-Außenstellen darin zu verstreuen; die Bewachung wurde unterdessen immer dürftiger, immer illusorischer.
    Die stärkste der Ketten war die allgemeine Niedergeschlagenheit, das vollständige Sichfügen in das sklavische Los. Ob Achtundfünfziger, ob Bytowiki, es waren fast durchweg arbeitsame Familienväter, die sich zu Wagemut nur aufschwangen, wenn er legalisiert, befohlen und von oben bewilligt war. Auch wer fünf oder zehn Jahre abzusitzen hatte, konnte sich nicht vorstellen, wie er jetzt, auf sich allein gestellt (Gott behüte, gar im Kollektiv! …), in den Kampf um die Freiheit ziehen sollte – gegen den Staat (den eigenen Staat), die NKWD, die Miliz, die Wachen, die Hunde; wie er dann leben sollte (falls das Unternehmen überhaupt glückte): mit falschem Paß, mit falschem Namen – da draußen, wo an jeder Straßenecke die Papiere geprüft, wo die Passanten aus jeder Toreinfahrt mit lauernden Blicken beobachtet werden.
    Eine andere Ankerkette war der Hunger, das böse Nagetier. Obwohl ein verzweifelter Sek mitunter gerade durch den Hunger in die Taiga getrieben wurde, weil er sich von ihr noch immer mehr Nahrung erhoffte als von der Lagerküche, war es doch eben dieser Hunger, der die Seki auslaugte, nie zu Kräften kommen ließ für die lange Wanderschaft und nie was wegzulegen erlaubte als Wegzehrung für später.
    Eine

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