Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Überlegungen, unsere Ideale und alles bis dahin Gelesene entgegenzusetzen. Die Kinder aber nehmen den Archipel mit der göttlichen Empfänglichkeit der Kindheit auf. Und sind in wenigen Tagen – in Tiere verwandelt! In böse Tiere obendrein, weil jeder Art ethischen Empfindens bar. Der Frischling weiß bald Bescheid: Wo du einen Bissen zwischen Zähnen stecken siehst, die schwächer als die deinen sind – schnapp zu, er gehört dir!
Es gibt zwei Grundarten der Frischlingsunterbringung auf dem Archipel: eigene Kinderkolonien (hauptsächlich für die Jüngeren, noch nicht Fünfzehnjährigen) und gemischte Lagerpunkte, wo sie meist zusammen mit Invaliden und Frauen sitzen.
Beide Arten sind gleichermaßen dazu angetan, den Kindern eine tierische Boshaftigkeit anzuerziehen. Keine der beiden Arten ist imstande, die Erziehung der Frischlinge im Geiste der Unterweltsideale zu verhindern.
Hier Jura Jermolow. Er berichtet, schon mit zwölf (1942) viel Betrug, Dieberei und Spekulantentum rundherum gesehen und sich daraufhin folgende Lebensregel zurechtgelegt zu haben: Nur wer sich fürchtet, stiehlt und betrügt nicht! Ich aber will mich vor nichts fürchten! und werde demnach stehlen und betrügen und ein gutes Leben haben! Für eine Weile allerdings nahm sein Leben einen anderen Verlauf. Da hatten es ihm nämlich die leuchtenden Jugendideale angetan, auf die die schulische Erziehung baute. Doch weh, den Geliebten Vater hatte er alsbald durchschaut (die Minister und preisgekrönten Literaten behaupten heute, dies sei damals gänzlich unmöglich gewesen!) und schrieb mit vierzehn ein Flugblatt: «Nieder mit Stalin! Es lebe Lenin!» Und ward sogleich geschnappt, verprügelt, nach § 58,10 abgeurteilt und zusammen mit minderjährigen Urkas eingesperrt. Das Gesetz der Unterwelt zu erlernen, bereitete Jura Jermolow keine Mühe. Seine Lebensspirale machte ein paar stürmische Umläufe – und schon hatte er, erst vierzehn Jahre alt, seine «Negation der Negation» vollzogen: Er war zum Verständnis des Stehlens als höchster und bester Daseinsform zurückgekehrt.
Was entdeckte er nun in der Kinderkolonie? «Noch mehr Ungerechtigkeiten als in der Freiheit. Die Natschalniks und Aufseher schmarotzen auf Kosten des Staates, die Erziehung ist nur das Aushängeschild. Ein Teil der Rationen gelangt von der Küche weg in die Wänste der Erzieher. Die Kinder werden mit Stiefeln getreten, in Furcht und Angst gehalten, damit sie schweigsam und folgsam sind.»
Die einfachste Antwort auf die bedrängenden Ungerechtigkeiten: Handle ebenso ungerecht wie sie! Den leichtesten Ausweg stellt es dar, er wird nun für lange (oder gar für immer) Wahlspruch der Frischlinge sein.
Auffällig ist, daß die Frischlinge, nachdem sie die Kampfarena des grausamen Lebens betreten haben, niemals gegeneinander kämpfen! In ihresgleichen sehen sie keine Feinde! Im Kollektiv, als Trupp treten sie zum Kampf an! Sind’s die Keime des Sozialismus? die Predigten der Erzieher? – Ach, laßt doch das leere Geschwätz! Das Gesetz der Unterwelt bestimmt ihr Tun. Denn Einigkeit wird bei den Ganoven groß geschrieben, eisern stehen sie zur Disziplin und zu ihren Baldowern. Und die Frischlinge – sind die jungen Pioniere der Unterwelt, sie eignen sich die Gebote der Älteren an.
Niemand kann in diesem Hexenkessel widerstehen! Kein Junge vermag sich darin seine eigene Persönlichkeit zu bewahren – er wird zertreten, zerrissen, zerlegt, wenn er sich nicht sofort als Diebspionier zu erkennen gibt. Und keiner kann umhin, diesen Beitrittseid zu leisten … (Leser! Stellt euch eure Kinder dort vor …)
Wer sind in den Kolonien die Feinde der Kinder? Die Aufseher und Erzieher. Gegen sie geht der Kampf!
Da werden sie in Reih und Glied unter strenger Bewachung durch eine Stadt geführt, ist’s nicht geradezu beschämend, die Knirpse so ernst zu bewachen? Halt! Erst mal abwarten! Sie haben sich abgesprochen – ein Pfiff – und stieben schon nach allen Seiten auseinander! Was sollen die Wachen tun? Schießen? Auf wen? Doch nicht auf Kinder?! … Die Frischlinge sind ihre Strafen jedenfalls los. Gleich hundertfünfzig Jahre sind dem Staat davongelaufen. Gefällt’s dir nicht, dich zum Gespött zu machen – dann sperr halt keine Kinder ein!
Hier, was sie prahlend selbst erzählen. Da ich die übliche Handlungsweise der Frischlinge kenne, sehe ich keinen Grund, dem Bericht nicht zu glauben. Eine Schar aufgeregter, erschrockener Kinder kommt zur Krankenschwester der
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