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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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hungrige Mädchen Lida, vierzehn Jahre alt, im Bezirkszentrum Tschingirlaus, Gebiet Kustanai, wohnhaft, ging die Straße entlang, um die von einem Lastwagen dünn herabrieselnden Getreidekörner aus dem Staub aufzuklauben (die ja ohnedies verlorengegangen wären). Nun, sie bekam lediglich drei Jahre, denn es ward als mildernd anerkannt, daß sie nicht vom Feld und nicht aus dem Speicher das sozialistische Eigentum gestohlen hatte. Vielleicht aber sind die Richter auch deshalb milder gestimmt gewesen, weil sie in jenem Jahr (1948) vom obersten Gerichtshof doch noch angewiesen worden waren, Diebstahl, der den Charakter kindlicher Lausbüberei trug, nicht als gerichtlich zu ahndendes Verbrechen zu betrachten. In Analogie kam das Gericht demnach zu dem Schluß, sich ein wenig Milde erlauben zu dürfen.
    Und sehr viele kamen vor Gericht, weil sie aus Lehrlingsinternaten abgehauen waren. Allerdings gab es dafür nur sechs Monate Strafe. (In den Lagern wurden sie zum Spaß Todeskandidaten genannt. Doch Spaß hin, Spaß her, hier ein Bild aus einem fernöstlichen Lager: Die «Todeskandidaten» wurden zum Ausräumen der Abortgrube beordert. Eine Karre mit zwei großen Rädern; ein riesiges Faß drauf, mit stinkender Jauche gefüllt. Ein Rudel «Todeskandiaten» spannt sich vor die Deichsel, andere schieben an den Seiten und hinten, werden dabei vom überschwappenden Kot bespritzt, während vollgefressene, lachende Sukas in Anzügen aus bestem Wolltuch die Kinder mit Stöcken vorwärtstreiben. 1949, auf der Überfahrt von Wladiwostok nach Sachalin, griffen die Sukas zu den Messern, um sich die Kinder gefügig zu machen. Mithin genügten manchmal auch sechs Monate vollauf.)
    Da traten also die Zwölfjährigen über die Schwellen der «erwachsenen» Gefängniszellen, als vollberechtigte Bürger den Erwachsenen gleichgestellt, mit gleich schauerlichen Fristen ausgestattet, fast so lang wie ihr ganzes kindliches Leben, mit gleicher Brotration, gleicher Suppe, gleichen Pritschen versorgt – und bald war «Minderjährige», der alte Terminus kommunistischer Umerziehung, irgendwie verblaßt, nicht mehr recht faßbar, in seinen Konturen verschwommen – und es war nun Sache des GULAG selbst, das freche Wort Frischling zu gebären, und schon sprachen sie’s nach, stolz und bitter, nannten sich selbst nicht mehr anders, diese bitteren Bürger – noch nicht Bürger des Staates, doch schon Bürger des Archipels.
    So früh und so seltsam begann ihre Volljährigkeit: mit dem Schritt durch das Gefängnistor!
    Die zwölf-bis vierzehnjährigen Kerlchen wurden in eine Lebensordnung gestoßen, der auch gefestigte, tapfere Männer nicht gewachsen waren. Die Gesetze des jungen Lebens aber ließen sie, die Jungen, nicht zerbrechen, sondern – hineinwachsen in diese Ordnung und sich anpassen an ihre Greuel. Es ist ja so, daß man im frühen Alter mühelos neue Sprachen und Verhaltensnormen erlernt, was Wunder also, daß sich die Frischlinge auf Anhieb die Sprache des Archipels – die Sprache der Unterwelt – und seine Philosophie (wessen Philosophie denn?) zu eigen machten.
    Den ganzen giftigen, fauligen Saft holten sie sich aus diesem Leben, alles, was das Unmenschlichste darin war, und taten es so selbstverständlich, als hätten sie schon als Brustkinder diese Flüssigkeit und nicht Muttermilch zu saugen bekommen.
    Schnell und leicht fanden sie sich im Lager zurecht, nicht Wochen brauchten sie dazu, nur Tage! Grad als wären sie gar nicht erstaunt, grad als wäre dies Leben gar nichts Neues für sie, sondern bloß die natürliche Fortsetzung ihres gestrigen freien Daseins.
    Sie sind ja auch draußen nicht in Samt und Spitzen aufgewachsen; die Kinder der Mächtigen und Wohlbestallten, die brauchten ja nicht Ähren zu schneiden, nicht Kartoffeln zu stehlen, nicht sie waren es, die zur Arbeit zu spät kamen, aus den Lehrlingsheimen davonliefen. Die Frischlinge sind Kinder werktätiger Eltern. Sie haben schon draußen mitbekommen, daß das Leben auf Ungerechtigkeiten beruht. Doch so extrem entblößt wie hier war’s draußen trotzdem nicht, da hüllte sich manches in schickliche Kleider, da wurde manches durch das gute Wort der Mutter gedämpft. Auf dem Archipel nun bekamen die Frischlinge die Welt so zu sehen, wie sie sich den Augen von Vierbeinern zeigt: Nur in der Stärke ist Recht! Nur das Raubtier hat Anspruch auf Leben! Auch als Erwachsene sehen wir den Archipel nicht anders, sind jedoch imstande, ihm unsere Erfahrung, unsere

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