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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Schar Frauen besetzte die Geleise der Eisenbahnlinie Moskau-Rostow, die unweit des Werkes verläuft. Vielleicht wollten sie Züge aufhalten, damit Moskau möglichst rasch von den Ereignissen erfahre, vielleicht wollten sie das Heranführen von Truppen und Panzern behindern. Gleichzeitig begannen die Männer die Schienen abzumontieren und Sperren zu errichten. Der Streik verlief mit einer Heftigkeit, wie sie in der ganzen Geschichte der russischen Streikbewegung ungewöhnlich ist. Auf dem Werksgelände tauchten Parolen auf: «Nieder mit Chruschtschow!», «Chruschtschow durch die Wurstmaschine!»
    In der Zwischenzeit wurden Truppen und Miliz im Umkreis des Werkes zusammengezogen. Auf der Brücke über den Tuslow fuhren Panzer auf. Vom Abend bis zum Morgen war jeder Verkehr in der Stadt und über den Fluß verboten. Die Siedlung kam auch in der Nacht nicht zur Ruhe. Ungefähr dreißig Arbeiter wurden als «Anstifter» verhaftet und in das Gebäude der städtischen Miliz gebracht.
    Am Morgen des 2. Juni traten auch andere Betriebe der Stadt in den Streik (doch bei weitem nicht alle). Im Lokomotivenwerk kam es zu einer allgemeinen Versammlung, auf der beschlossen wurde, in die Stadt zu marschieren und die Freilassung der verhafteten Arbeiter zu fordern. Es bildete sich ein Zug (vorerst nicht mehr als dreihundert Personen, es brauchte ja Mut dazu!) mit Frauen und Kindern, Leninporträts und friedlichen Parolen. Er passierte ungehindert die panzerbewachte Brücke und bewegte sich zur Stadt hinaus. Hier schlossen sich Neugierige, einzelne Angehörige anderer Fabriken und Straßenjungen an, die Menge wurde rasch größer. An verschiedenen Stellen wurden Lastwagen gestoppt, Menschen kletterten hinauf und hielten Reden. Die ganze Stadt brodelte vor Erregung. Die Demonstranten des Lokomotivenwerks zogen durch die Hauptstraße (Moskauer Straße), ein Teil versuchte in den Sitz der städtischen Miliz einzudringen, weil man dort die Festgenommenen vermutete. Aus dem Gebäude wurde ihnen mit Pistolenschüssen geantwortet. Alle Straßen waren voll von Menschen, hier auf dem Platz war das Gedränge am dichtesten.
    Das Gebäude des Parteikomitees war leer – die Stadtfunktionäre waren nach Rostow geflohen.
    Es war ungefähr elf Uhr vormittags. Die Miliz war aus der Stadt verschwunden, dafür trafen immer mehr Truppen ein. (Sehr eindrucksvoll, wie die zivile Obrigkeit im ersten Schreck sofort hinter den Rücken der Armee flüchtete.) Die Soldaten besetzten das Postamt, den Sender und die Bank. Zu diesem Zeitpunkt war Nowotscherkassk bereits von Armee-Einheiten eingeschlossen, die Stadtzugänge und -ausgänge waren abgeriegelt. Durch die Moskauer Straße, auf demselben Weg, den der Demonstrationszug genommen hatte, rollten langsam Panzer in Richtung Parteizentrale. Einige Straßenjungen kletterten auf die Panzer und verstopften die Sehschlitze. Die Panzer gaben blinde Schüsse ab – entlang der Straße klirrten die Fenster-und Auslagenscheiben. Die Jungen machten sich davon, die Panzer setzten ihren Weg fort.
    Und die Studenten? Nowotscherkassk ist doch eine Universitätsstadt! Wo bleiben die Studenten? Die Studenten der Polytechnischen und anderer Hochschulen, sowie einiger Fachschulen, waren am Morgen in ihren Heimen und Lehrgebäuden eingesperrt worden. Schlaue Rektoren! Aber auch nicht sehr freiheitsbewußte Studenten. Wahrscheinlich waren sie froh, daß sie eine Ausrede hatten. Die heutigen westlichen Studenten (wie die russischen zur Zarenzeit) wird man kaum durch ein Türschloß vom Revoltieren abhalten können.
    Im Parteigebäude kam es zu einem Handgemenge, die Redner wurden nacheinander hineingezogen, und der Balkon füllte sich mit Militärs. MP-Schützen begannen von dem kleinen Platz neben dem Palais vorzurücken und die Menge gegen das Gitter der Grünanlage zurückzudrängen. (Verschiedene Zeugen berichten übereinstimmend, daß diese Soldaten Nichtrussen waren, Kaukasier, die man frisch vom anderen Ende des Militärbezirks hergebracht hatte; sie lösten die Schützenkette der örtlichen Garnison ab. In einem anderen Punkt sind die Aussagen widersprüchlich: Hatte die ursprünglich postierte Schützenkette Schießbefehl erhalten, und stimmt es, daß der Befehl deshalb nicht ausgeführt wurde, weil der Hauptmann, der ihn erhielt, sich weigerte und vor seinen Soldaten Selbstmord beging? Der Selbstmord des Offiziers steht außer Zweifel, unklar sind jedoch die Berichte über die näheren Umstände, und niemand kennt den

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