Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Schuldigen streng zu bestrafen, fürs erste sei es jedoch notwendig, daß alle nach Hause gingen, um Krawalle in der Stadt zu vermeiden.
Doch die Menge ging nicht auseinander! Gegen Abend wurde sie sogar noch dichter. Verwegene Nowotscherkassker!
Um neun Uhr abends versuchte man mit Hilfe der Panzer vor dem Palais die Menge auseinanderzutreiben. Doch kaum hatten die Fahrer die Motoren angelassen, als die Menschen sich auf die Panzer stürzten, die Luken blockierten und die Sehschlitze verstopften. Die Motoren verstummten wieder. Die MP-Schützen standen dabei und machten keine Anstalten, den Besatzungen zu helfen.
Eine Stunde später näherten sich von der anderen Seite Panzer und Panzerwagen mit aufgesessenen MP-Schützen.
Um Mitternacht begannen die MP-Schützen mit Leuchtspurmunition Salven in die Luft abzugeben – und die Menge zerstreute sich allmählich.
(Kraft der Volkserregung! Wie rasch veränderst du die öffentliche Atmosphäre! Gestern noch Ausgangssperre und drückende Angst, und heute ist die ganze Stadt auf den Beinen und johlt und pfeift. Ist es wirklich unter der Kruste eines halben Jahrhunderts noch so nahe – ein ganz anderes Volk, ein ganz anderes Klima?)
Am 3. Juni hielten Mikojan und Koslow Ansprachen über den Stadtsender. Koslow weinte nicht mehr. Versprach auch nicht mehr, nach den Schuldigen zu suchen. Statt dessen wurde erklärt, daß die Ereignisse von Feinden provoziert worden seien, und daß die Feinde mit aller Strenge bestraft werden würden. Außerdem sagte Mikojan, daß Dumdum-Geschosse nicht zur Ausrüstung der sowjetischen Armee gehörten – folglich seien sie von Feinden verwendet worden.
(Aber wer sind denn diese Feinde? Von welchen Flugzeugen sind sie abgesetzt worden? Wohin sind sie verschwunden? Wenn man nur einmal einen zu Gesicht bekommen würde! Oh, wie sehr haben wir uns daran gewöhnt, für dumm gehalten zu werden – «Feinde», als ob damit etwas erklärt wäre … wie der Teufel im Mittelalter …)
Im Nu bereicherte sich das Warensortiment der Läden mit Butter, Wurst und vielem, was es hier schon lange nicht mehr gegeben hatte oder was den Hauptstädten vorbehalten war.
Von den Verletzten hat man nichts mehr gehört und gesehen, keiner von ihnen ist zurückgekehrt. Im Gegenteil, die Familien der Verletzten und Getöteten (sie suchten ja ihre Angehörigen!) wurden nach Sibirien verschickt. Ebenso zahlreiche Beteiligte, die beobachtet oder fotografiert worden waren. Es fanden mehrere geheime Prozesse gegen die Teilnehmer der Demonstration statt. Es gab auch zwei «öffentliche» Prozesse (die Eintrittskarten waren für Parteiorganisatoren und Funktionäre reserviert). In einem der Prozesse wurden neun Männer verurteilt (zum Tode) sowie zwei Frauen (zu fünfzehn Jahren).
Eine Woche nach dem «blutigen Samstag» meldete das Radio: «Die Arbeiter des Elektrolokomotivenwerks haben sich verpflichtet, den Siebenjahresplan vorzeitig zu erfüllen.»
1961, ein Jahr vor Nowotscherkassk, wurde in Alexandrow ein Arrestant von der Miliz zu Tode geprügelt. Als die Miliz auch noch verbot, den Sarg an der Wachstube vorbei zum Friedhof zu tragen, steckte die aufgebrachte Menge die Wachstube in Brand. Die Beteiligten wurden auf der Stelle verhaftet. (Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich etwas später in Murom.) Wie sind solche Leute jetzt zu behandeln? Unter Stalin genügte ein Nadelstich durch ein Zeitungsfoto, um sich für § 58 zu qualifizieren. Jetzt entschied man klüger: Die Brandschatzung einer Miliz-Wachstube ist kein politischer Akt, das ist gewöhnliches Banditentum. Eine Instruktion, die diesbezüglich ergangen war, besagt, daß «Massenunruhen» nicht als Politik zu gelten haben. (Was ist dann überhaupt Politik?)
Auf diese Weise sind bei uns die Politischen verschwunden.
Doch es gibt noch einen anderen Strom, der nie versiegt ist, seitdem die Sowjetunion besteht. Jene Verbrecher, die von der «wohltätigen Welle …» nicht einmal gestreift wurden. Ein Strom, der beständig zu allen Zeiten floß, als «die Leninschen Normen verletzt wurden» und genauso, als sie eingehalten wurden, und der unter Chruschtschow nur noch stärker anschwoll.
Das sind die Gläubigen. Jene, die sich der neuen brutalen Welle von Kirchenschließungen widersetzten. Mönche, die aus den Klöstern vertrieben wurden. Hartnäckige Sektierer, vor allem Wehrdienstverweigerer – da hilft nichts, das ist nun einmal direkte Unterstützung des Imperialismus, wenn es mit fünf Jahren fürs
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