Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
abgebrochen werden. Entsprechend unseren bescheidenen und beschränkten Möglichkeiten haben wir die Geschichte des Archipels von den morgenroten Salven, die seine Geburt verkündeten, bis zum rosafarbenen Nebel der Rehabilitierungen verfolgt. Wir wollen unsere Darstellung in diesen herrlichen Jahren der Aufweichung und Auflösung am Vorabend einer neuen, Chruschtschowschen Verhärtung und vor dem Inkrafttreten eines neuen Strafgesetzes enden lassen. Es werden sich andere Geschichtsschreiber finden, die das Unglück haben, die Lager der Chruschtschow-und Nachchruschtschow-Ära besser zu kennen als wir.
Es haben sich schon welche gefunden: S. Karawanski und Anatolij Martschenko. Und viele werden noch aus dem Untergrund auftauchen.
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Das Gesetz heute
Wie der Leser im Verlauf dieses Buches gesehen hat, gibt es in unserem Land, angefangen von der frühesten Stalinzeit, keine politischen Gefangenen. Die Millionenscharen, die vor unseren Augen vorbeigezogen sind, die Millionenheere der Achtundfünfziger – sie alle waren gewöhnliche Verbrecher.
Erst recht beteuerte der redselige, joviale Nikita Sergejewitsch, wann immer er sich am Rednerpult erging: «Politische? Nein! Bei uns gibt es keine!»
Und es zeigte sich, wie rasch der Kummer vergessen ist, wie rasch die Wunden vernarbt sind, wie rasch wir wieder Fett ansetzen: Fast waren wir bereit, es zu glauben! Sogar die alten Seki. Man hatte erwiesenermaßen Millionen von Seki nach Hause entlassen – das hieß doch, daß es keine Politischen mehr gab, oder? Wir waren selbst zurückgekehrt, unsere Angehörigen waren zurückgekehrt, die Lagerkameraden waren zurückgekehrt. Unser gewohnter städtischer Kreis hatte sich wieder aufgefüllt und geschlossen. Man legt sich schlafen, wacht am Morgen auf – und niemand ist in der Nacht geholt worden, die Bekannten rufen an, alle sind noch da. Nicht daß wir überzeugt gewesen wären, aber wir beruhigten uns damit, daß im großen und ganzen jetzt keine Politischen mehr sitzen.
Und Nikita steigt nicht runter von der Rednertribüne: «Es kann keine Rückkehr zu diesen Erscheinungen und Ereignissen geben, weder in der Partei noch im Lande.» (22. Mai 1959 – noch vor Nowotscherkassk.) «Jetzt können alle in unserem Land frei atmen … Niemand braucht um seine Gegenwart oder Zukunft zu bangen.» (8. März 1963 – bereits nach Nowotscherkassk.)
Nowotscherkassk! Eine der Schicksalsstädte Rußlands. Als ob ihr der Bürgerkrieg zu wenig Wunden zugefügt hätte – geriet sie noch einmal unter den Säbel.
Nowotscherkassk! Eine ganze Stadt hat sich erhoben, und niemand weiß davon, so sorgfältig ist alles weggewischt und beseitigt worden! Schon unter Chruschtschow war die Mauer der Geheimhaltung so dicht, daß nicht nur das Ausland uninformiert blieb, die ausländischen Sender uns keine Aufklärung brachten, sondern auch das Gerücht im Land selbst nicht weit drang, schon in nächster Nähe abgewürgt wurde – und die Mehrzahl unserer Bürger nicht einmal den Namen dieses Ereignisses kennt: Nowotscherkassk, 2. Juni 1962.
Wir wollen daher darlegen, was wir darüber erfahren konnten.
Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß hier ein wichtiger Ansatzpunkt für die neueste russische Geschichte liegt. Wenn wir von dem großen Streik der Textilarbeiter in Iwanowo Anfang der dreißiger Jahre (der friedlich endete) absehen, so ist Nowotscherkassk innerhalb von einundvierzig Jahren (nach Kronstadt und Tambow) die erste aus dem Volk kommende, von niemandem vorbereitete, geleitete oder geplante Aktion – ein Aufschrei der Seele, daß es so nicht weitergehen kann!
Freitag, den 1. Juni, wurde in der Sowjetunion eine der von Chruschtschow so geliebten Verordnungen bekanntgemacht, diesmal über die Erhöhung der Fleisch-und Butterpreise. Unabhängig davon wurden aufgrund eines anderen Wirtschaftsplanes am selben Tag im großen Nowotscherkassker Elektrolokomotivenwerk (NEWS) die Lohnsätze bis zu dreißig Prozent gesenkt. In der Schmiede und Stahlgießerei fanden sich die Arbeiter trotz aller Gefügigkeit und Abgestumpfheit nicht dazu bereit, die Arbeit aufzunehmen – dieser Druck von beiden Seiten, das war zu viel! Die erregten Debatten führten rasch zu einer spontanen Versammlung. Ein alltägliches Ereignis im Westen, ein außergewöhnliches für uns.
Zu Mittag hatte der Streik das ganze riesige Werk erfaßt. (Man schickte Boten in die anderen Fabriken, die jedoch, nach anfänglichem Zögern, ihre Unterstützung versagten.) Eine
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