Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
diesen unheilvollen, zerstörerischen Reformen kann man die Geschichte der Sonderlager mit dem Jahr 1954 als abgeschlossen betrachten, da sie sich fortan nicht mehr von den ITL unterscheiden.
Überall auf dem zerzausten Archipel herrschte in den Jahren 1954–56 ein freies, angenehmes Leben, es war eine Zeit noch nie dagewesener Vergünstigungen …
Die Historiker, die die Regierungszeit Nikita Chruschtschows untersuchen werden, jene zehn Jahre, in denen plötzlich gewisse altgewohnte physikalische Gesetze aufgehoben zu sein schienen, als sich die Dinge auf wunderbare Weise gegen die Feldkräfte und gegen die Schwerkraft bewegten – werden mit Staunen feststellen, wieviel Möglichkeiten für kurze Zeit in den Händen dieses Mannes vereinigt waren, und wie unernst er von ihnen Gebrauch machte, als wär’s ein Spiel, und wie leichtfertig er sie wieder fallenließ. Chruschtschow besaß nach Stalin die größte Macht unserer Geschichte – eine zwar schon geschwächte, aber noch immer gewaltige Macht – und ging damit um wie jener Bär in Krylows Fabel, der einen Holzklotz ziel-und nutzlos auf der Wiese umherrollt. Er hätte die Befreiung des Landes viel tiefer treiben, viel weiter führen können, doch er ließ plötzlich davon ab und wandte sich anderen Spielereien zu: Kosmos, Maisanbau, Kuba-Raketen, Berlin-Ultimaten, Kirchenverfolgung, Teilung der Parteiorganisation, Kampf gegen den Abstraktionismus.
Er hat nie etwas zu Ende geführt, am wenigsten die Sache der Freiheit! Galt es ihn auf die Intelligenz zu hetzen? Nichts einfacher als das. Galt es mit Hilfe seiner Hände, die die Stalinlager zerschlagen hatten, diese Lager wieder aufzubauen und zu festigen? Auch das war leicht zu bewerkstelligen! Und wann geschah es?
Im Jahre 1956, dem Jahr des XX. Parteitages, wurden bereits die ersten restriktiven Verordnungen über das Lagerregime erlassen! Sie wurden fortgesetzt 1957, als Chruschtschow die ungeteilte Macht übernahm.
Doch der Stand der «praktischen Mitarbeiter» war damit noch nicht zufriedengestellt. Sieg witternd, ging er zum Gegenangriff über: So kann man nicht leben! Das Lagersystem, die Stütze der Sowjetmacht, geht zugrunde!
Ohne sich diesem Druck zu widersetzen; ohne in etwas tiefer einzudringen; ohne daran zu denken, daß die Kriminalität in diesen fünf Jahren nicht zugenommen hatte (und wenn sie zugenommen hat, dann muß man die Ursache im staatlichen System suchen); ohne diese neuen Maßnahmen mit seinem eigenen Glauben an den bevorstehenden Triumph des Kommunismus in Einklang zu bringen; ohne die Sache im Detail studiert zu haben, ohne sich mit eigenen Augen überzeugt zu haben – unterschrieb dieser Zar, der «sein Leben auf Reisen» verbracht hatte, leichter Hand die Bestellung für jene Nägel, mit denen binnen kurzem das Blutgerüst in seiner alten Form und Haltbarkeit wieder zusammengenagelt wurde.
Und all das geschah in jenem Jahr 1961, als Nikita einen letzten Versuch machte, den Wagen der Freiheit emporzureißen und in die Wolken zu entführen. Ausgerechnet im Jahr des XXII. Parteitages wurde der Ukas über die Einführung der Todesstrafe im Lager «bei Terror gegen Gebesserte (soll heißen, gegen Spitzel) und gegen das Aufsichtspersonal» (so etwas hatte es überhaupt nie gegeben!) erlassen, ausgerechnet in diesem Jahr (Juni 1961) beschloß das Plenum des Obersten Gerichtes die vier Lagerregime (nicht mehr die Stalinschen, sondern Chruschtschowschen).
Als Nikita auf dem Parteitag ans Rednerpult trat, um einen neuen Angriff gegen die Stalinsche Kerkertyrannis zu starten, hatte er eben erst die Schrauben seines eigenen Systemchens festziehen lassen, welches um nichts schlechter war. Und er war ehrlich überzeugt, daß das alles miteinander vereinbar sei!
Die Lager heute – das sind jene Lager, wie sie die Partei vor dem XXII. Parteitag sanktioniert hat. Sechs Jahre bestehen sie schon in dieser Form.
Von den Stalinlagern unterscheiden sie sich nicht durch das Regime, nur durch die Zusammensetzung der Häftlinge: Es fehlen die Achtundfünfziger-Millionen. Aber ebenso wie früher sitzen Millionen, und ebenso viele sind hilflose Opfer der Justiz, hinter Lagermauern gekehrt, nur damit das System leben kann und Nahrung hat.
Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt.
Er bleibt deshalb, weil dieses Staatssystem nicht ohne ihn bestehen kann. Würde es den Archipel auflösen, würde es aufhören zu existieren.
Es gibt keine endlosen Geschichten. Jede Geschichte muß einmal
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