Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Namen dieses Gewissenshelden.) Wer das Kommando gab, wissen wir nicht – jedenfalls hoben diese Soldaten die MPs und gaben eine erste Salve über die Köpfe hinweg ab.
Die Warnsalve traf die Bäume der Grünanlage und die darauf hockenden Buben, die der Reihe nach herunterfielen. Wahrscheinlich brüllte die Menge auf – und da begannen die Soldaten, sei es auf Befehl, oder in Raserei, oder in Panik, direkt in die Menschenmasse zu schießen, noch dazu mit Dumdum-Geschossen. (Erinnern Sie sich an Kengir? Erinnern Sie sich an die sechzehn Toten vor dem Lagereingang?) Die Menge floh, von Entsetzen gepackt, und staute sich auf den schmalen Fahrbahnen links und rechts des Parks – und die Soldaten schossen noch immer, schossen in die Rücken der Fliehenden. Sie schossen so lange, bis der große Platz hinter dem Park, zwischen Lenindenkmal und Moskauer Straße, sich geleert hatte. Ein Augenzeuge berichtet: Man hatte den Eindruck, daß alles mit Leichen übersät war. Natürlich waren viele Verwundete darunter. Aus verschiedenen Aussagen ergibt sich, daß siebzig bis achtzig Menschen getötet wurden. Die Soldaten ließen Lastwagen und Autobusse kommen, luden die Toten und Verwundeten auf und schafften sie hinter die hohe Mauer des Militärlazaretts. Noch am nächsten und übernächsten Tag verkehrten in der Stadt Omnibusse mit blutbeschmierten Sitzen.
Wie seinerzeit in Kengir, so wurden auch hier Film-und Fotoaufnahmen der Aufrührer gemacht.
Das MP-Feuer hatte aufgehört, die Panik war gewichen, die Menge begann wieder auf den Platz zu strömen – und wurde wieder beschossen.
Das geschah zwischen zwölf und ein Uhr mittags.
Ein aufmerksamer Zeuge beschreibt, was er um zwei Uhr sah: «Auf dem Platz vor dem Parteigebäude sind etwa acht Panzer verschiedenen Typs aufgefahren. Vor ihnen ist eine Schützenkette postiert. Der Platz ist fast leer, man sieht nur vereinzelte Grüppchen, es sind vor allem Jugendliche, die den Soldaten etwas zurufen. In den Asphaltmulden stehen Blutlachen, ich übertreibe nicht. Ich habe nicht gewußt, daß es so viel Blut geben kann. Die Bänke im Park sind blutverschmiert, auf den Kieswegen, an den gekalkten Baumstämmen – überall Blutflecken. Der ganze Platz ist von Panzerketten zerfurcht. An der Wand des Parteigebäudes lehnt die rote Fahne, die die Demonstranten trugen, auf der Fahnenstange hängt eine blutbespritzte graue Kappe. Und darüber prangt ein großes, rotes Spruchband, das schon lange dort hängt: ‹Volk und Partei sind eins!›»
Die Menschen auf dem Platz nähern sich den Soldaten, überschütten sie mit Vorwürfen und Schmähungen: «Wie konntet ihr nur?!», «Auf wen habt ihr geschossen?», «Ihr habt auf das Volk geschossen!» Die Soldaten rechtfertigten sich: «Das waren nicht wir! Wir sind eben erst hergebracht worden. Wir haben von nichts gewußt.»
Tüchtig sind sie, unsere Mörder (und dabei spricht man immer von der Schwerfälligkeit der Bürokraten. General Plijew versteht sein Geschäft …
Zwischen fünf und sechs Uhr beginnt sich der Platz wieder mit Menschen zu füllen. Tapfere Nowotscherkassker! Der Stadtsender wiederholt ununterbrochen: «Bürger, laßt euch nicht provozieren, geht in eure Häuser!» Die Soldaten stehen da, die MPs in der Hand, das Blut ist noch nicht weggewaschen – und das Volk drängt von neuem an. Rufe ertönen, immer lauter – und die Ansammlung wird zur Versammlung. Es ist bereits bekannt, daß sechs hohe ZK-Mitglieder, darunter Mikojan, der Spezialist für Budapester Situationen, und Frol Koslow (die Namen der anderen sind nicht verbürgt), eingetroffen sind – wahrscheinlich schon vor dem Massaker! Eine Delegation junger NEWS-Arbeiter ist zu ihnen entsandt worden, die über das Vorgefallene berichten soll. Die Menge fordert lärmend: «Mikojan soll herkommen! Er soll selbst die Blutlachen sehen!» Nein, Mikojan wird nicht kommen. Statt dessen taucht gegen sechs Uhr ein Patrouillen-Hubschrauber auf, kreist in geringer Höhe über dem Platz und verschwindet wieder.
Bald kehrt die Arbeiterdelegation zurück. Die Menge verstummt. Die Abordnung teilt mit, sie habe mit den ZK-Mitgliedern gesprochen und ihnen den Hergang des «Blutsamstags» geschildert. Koslow habe geweint, als er erfuhr, daß nach der ersten Salve die Kinder von den Bäumen fielen. (Frol Koslow, das Haupt der Leningrader Partei-Gauner, dieser knochenharte Stalinist – er hat geweint!) Die ZK-Mitglieder hätten versprochen, die Vorfälle zu untersuchen und die
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