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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Informationen über die «praktischen Mitarbeiter» und Konvoisoldaten.

2
Die Machthaber wechseln, der Archipel bleibt
    Offensichtlich gehörten die Sonderlager zu den Lieblingsgeschöpfen des späten Stalingeistes. Nach so vielen Erziehungs-und Strafexperimenten entstand dieses reife, vollendete Werk: eine gleichförmige, durchnumerierte, mathematisch-nüchtern gegliederte Einrichtung, die psychologisch bereits aus dem Leib der Mutter Heimat herausgelöst war, die einen Eingang, aber keinen Ausgang hatte, die nur Feinde verschlang und nur Produktionswerte und Leichen hervorbrachte. Man kann sich kaum vorstellen, wie schmerzvoll es für den weitblickenden Baumeister gewesen wäre, hätte er erlebt, wie auch diese seiner großen Schöpfungen zusammenbrach. Schon zu seinen Lebzeiten begann das Gebäude zu wanken, Flammen brachen hervor, Risse bildeten sich – aber wahrscheinlich hat man ihn nichts davon wissen lassen, aus Ängstlichkeit. Das System der Sonderlager, das anfangs träge, unbeweglich und ungefährlich schien, hatte sich im Inneren rasch erhitzt und war innerhalb weniger Jahre in den Zustand vulkanischer Lava übergegangen. Hätte die Koryphäe noch ein, noch anderthalb Jahre gelebt, so wären ihr diese Eruptionen nicht mehr verborgen geblieben, und der altersschwache Geist hätte die Last einer neuen Entscheidung zu tragen gehabt: das Lieblingswerk entweder ganz aufgeben und die Lager wieder vermischen, oder umgekehrt, es durch systematische Liquidierung der Häftlingsalphabete krönen und abschließen.
    Doch kurz bevor es dazu kam, verstarb, laut beschluchzt, der große Denker. Und mitgezogen von der erkaltenden Hand, stürzte ihm nach in die Tiefe sein noch blühender, kraft-und willensgeladener Kampfgenosse – der Minister dieser unübersehbaren, verworrenen und unlösbaren inneren Angelegenheiten.
    Und der Sturz des Archipelchefs beschleunigte in tragischer Weise den Zerfall der Sonderlager.
    Die Nummernstreifen, jene größte Entdeckung der Lagerwissenschaft des 20. Jahrhunderts, wurden eiligst abgetrennt, weggeworfen und vergessen! Schon allein das raubte den Sonderlagern ihre strenge Einförmigkeit. Aber dabei blieb es nicht. Aus den Barackenfenstern wurden die Gitter entfernt, von den Türen die Schlösser abgenommen, und die Sonderlager verloren vollends ihren angenehmen Gefängnischarakter, der sie von den ITL-Lagern unterschied. Und wenn man bedenkt, daß die Korrespondenzbeschränkungen aufgehoben wurden, die den Sonderlagerinsassen erst so richtig das Gefühl des Lebend-begraben-Seins gegeben hatten. Und wenn sogar Besuche erlaubt wurden! – Schrecklich auszusprechen: Besuche! Der ungezügelte Liberalismus, der die Sonderlager von gestern überflutete, ging so weit, daß man den Häftlingen gestattete, sich die Haare wachsen zu lassen. Und statt der Lohnkonten und der Lagerbons durften die Archipelbewohner richtiges staatliches Geld in Händen halten und damit bezahlen, wie die Menschen von draußen.
    Leichtsinnig und mutwillig zerstörten sie das System, von dem sie sich selbst ernährten, das System, an dem sie jahrzehntelang gewoben und gestickt hatten!
    Und diese eingefleischten Verbrecher – haben sie sich deswegen auch nur im geringsten gebessert? Nein! Im Gegenteil! Sie haben nur neuerlich ihre Verderbtheit und Undankbarkeit bewiesen: Im Nu griffen sie das zutiefst unrichtige, kränkende und sinnlose Wort «Berija-Leute» auf und gefielen sich nun darin, jedesmal, wenn ihnen etwas nicht paßte, die braven Konvoisoldaten, geduldigen Aufseher und treusorgenden Lagerväter damit zu beschimpfen. Das war nicht nur kränkend für die Herzen der «praktischen Mitarbeiter», sondern, unmittelbar nach dem Sturz Berijas, auch gefährlich, da es von gewissen Leuten ausgenutzt werden konnte, um eine Anklage zu fabrizieren.
    Daher sah sich der Leiter eines Kengirer Lagerpunktes gezwungen, vom Podium aus folgende Worte an die Häftlinge zu richten: «Burschen! [In diesen kurzen Jahren 1954–56 erlaubte man sich, die Häftlinge mit «Burschen» anzureden.] Ihr beleidigt mit euren ‹Berija-Leute›-Rufen die Aufseher und Konvoimannschaften! Ich bitte euch, das einzustellen.» Doch da trat der kleine Wassilij Wlassow vor und erwiderte: «Ihr seid nach ein paar Monaten schon beleidigt. Ich habe von euren Bewachern achtzehn Jahre lang immer nur ‹Faschist› gehört. Und uns soll das nicht kränken?» Der Major versprach, den Gebrauch des Wortes «Faschist» abzustellen. Zug um Zug.
    Nach all

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