Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
das wird ausgeführt, obwohl das Präsidium des Obersten Sowjets eben erst (2. Juli 1962) mit der linken Hand die Weltkonvention «über den Kampf gegen die Diskriminierung im Bildungswesen» unterschrieben hat. Dort heißt es: «Die Eltern müssen die Möglichkeit haben, die religiöse und sittliche Erziehung der Kinder im Einklang mit ihrer eigenen Überzeugung zu sichern.» Aber gerade das dürfen wir nicht tolerieren! Und jeder, der zur Sache sprechen und klarlegen will, worum es geht, wird unweigerlich vom Richter unterbrochen, abgelenkt und irregemacht. Die richterliche Polemik spielt sich auf dem Niveau ab: «Es kann doch keinen Weltuntergang geben, wenn wir beschlossen haben, den Kommunismus aufzubauen!»
Aus dem Schlußwort der jungen Angeklagten Schenja Chloponina: «Statt ins Kino oder zum Tanzabend zu gehen, habe ich die Bibel gelesen und gebetet – und nur deswegen wollt ihr mir die Freiheit nehmen. Ja, frei sein ist ein großes Glück, doch von Sünde frei sein – ein größeres. Lenin hat gesagt: Nur in der Türkei und in Rußland gibt es noch so schändliche Erscheinungen wie Glaubensverfolgung. In der Türkei war ich nicht, kann es nicht sagen, aber in Rußland – wie Sie sehen.» Man schneidet ihr das Wort ab.
Das Urteil: zweimal fünf Jahre, zweimal vier Jahre, der kinderreiche Basbej erhält drei Jahre. Die Angeklagten nehmen das Urteil mit Freude an und beginnen zu beten. Die «Vertreter der Werktätigen» rufen: «Zu wenig! Gebt ihnen noch was drauf!» (Mit Benzin überschütten …)
Die geduldigen Baptisten haben Buch geführt und gezählt, und sie haben beschlossen, einen «Rat der Häftlingsangehörigen» zu schaffen. Dieser Rat gibt ein handgeschriebenes Informationsblatt über alle Fälle von Verfolgung heraus. Aus dieser Chronik erfahren wir, daß in der Zeit zwischen 1961 und Juni 1964 197 Baptisten, darunter 15 Frauen verurteilt wurden. (Alle sind namentlich genannt. Auch die Zahl der unversorgten Familienangehörigen wird genannt: 442, davon 341 im Vorschulalter.) Die meisten bekommen fünf Jahre Verbannung, einige fünf Jahre Lager mit strengem Regime (gerade daß man sie nicht in die gestreifte Narrentracht steckt!), und dazu noch drei bis fünf jahre Verbannung. B. M. Sdorowez aus Olschany im Gebiet Charkow erhielt sieben Jahre strenges Regime. Wegen ihres Glaubens kamen der sechsundsiebzigjährige Ju. W. Arend und die ganze Familie Losowoi (Vater, Mutter, Sohn) ins Gefängnis. Jewgenij M. Sirochin, Kriegsinvalide der 1. Kategorie, auf beiden Augen blind, wurde in Sokolowo (Bezirk Smijew, Gebiet Charkow) zu drei Jahren Lager verurteilt, weil er seine Kinder Ljuba, Nadja und Raja im christlichen Glauben erzog. Die Kinder wurden ihm durch Gerichtsbeschluß weggenommen.
In dem Prozeß gegen den Baptisten M. I. Brodowski (Nikolajew, 6. Oktober 1966) scheute sich das Gericht nicht, plump gefälschte Dokumente zu verwenden. Der Angeklagte protestiert: «Das ist gegen Recht und Gewissen!» Und bekommt zur Antwort: «Das Gesetz wird Sie zermalmen und vernichten!»
Das Ge-setz. Das ist nicht mehr die «außergerichtliche Abrechnung» jener Zeit, als noch «die Normen eingehalten wurden».
Kürzlich erreichte uns aus dem Lager Karawanskis Das Gesuch, ein Buch, das die Seele erschauern läßt. Der Verfasser war zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt und nach sechzehn Jahren (1944–60) entlassen worden (offensichtlich aufgrund der «zwei Drittel»); er hatte geheiratet, hatte zu studieren begonnen – und 1965 kamen sie wieder: Pack zusammen! Hast noch neun Jahre abzusitzen.
Wo ist denn so etwas möglich, in welcher anderen Rechtsordnung außer unserer?
Und das ist nicht wenigen passiert. Jene, die von der Chruschtschowschen Entlassungsepidemie übergangen wurden, die zurückgebliebenen Brigadekameraden, Zellengenossen und Bekannten aus den Peresylkas. Wir haben sie in unserem restaurierten Leben längst vergessen, doch sie sind noch immer dort, trotten noch immer grau und verloren, mit stumpfem Blick, auf denselben paar Quadratmetern abgetretenen Bodens, zwischen denselben Wachttürmen und Stacheldrahtzäumen. Es wechseln die Porträts in den Zeitungen, es wechseln die Redner auf den Tribünen, es wird gegen den Kult gekämpft und nicht mehr gekämpft – und die Fünfundzwanziger-Häftlinge, die Taufsöhne Stalins, sitzen noch immer …
Karawanski erzählt uns von einigen, bringt ihre Lagerbiographien: Es überläuft einen kalt dabei.
Oh, ihr freiheitsliebenden «linken» Denker!
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