Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
nichts ähnliches widerfahren, wie soll er es wissen? So vergehen diese ersten Stunden, da sich der Sturm, der in seinem Inneren tobt, noch nicht gelegt hat. Die einen verlieren den Mut – der passendste Augenblick für das erste Verhör! Die anderen verbeißen sich in Zorn – um so besser, gleich werden sie den Untersuchungsrichter beleidigen, sich eine Blöße geben –, und es kommt die Sache um so leichter ins Rollen.
16. Wenn’s an Boxen Mangel gab, machten sie es auch anders. Jelena Strutinskaja wurde in der Nowotscherkassker NKWD für sechs Tage im Gang auf einen Hocker gesetzt, so, daß sie sich nicht anlehnen konnte, nicht schlafen, nicht auf den Boden fallen und nicht aufstehen. Und das sechs Tage lang! Probieren Sie’s für nur sechs Stunden!
Wiederum als Variante bietet sich ein höherer Hocker an, von der Art, wie sie in Laboratorien stehen, daß die Füße nicht bis zum Boden reichen und darum trefflich anschwellen. Acht Stunden sind genug.
Während des Verhörs geht es auch. Wenn man den Häftling vor Augen hat, setzt man ihn auf einen gewöhnlichen Stuhl, jedoch so: ganz vorn, auf die Sitzkante (noch ein Stück, noch ein bißchen!), damit er gerade nicht herunterfällt, ihn aber die Kante das ganze Verhör über schmerzhaft drückt. Und erlaubt ihm einige Stunden keine Bewegung. Das ist alles? Ja, nichts mehr. Versuchen Sie es!
17. Lokalbedingt kann die Box durch eine Divisionsgrube ersetzt werden, wie es in den Gorochowezker Armeelagern während des Großen Vaterländischen Krieges der Fall war. In einer solchen Grube – drei Meter tief, zwei Meter im Durchmesser, unter freiem Himmel – verbrachte der Verhaftete mehrere Tage, ob’s regnete oder nicht, und sie war ihm Zelle und Latrine zugleich. Die dreihundert Gramm Brot und das Wasser wurden an einer Schnur hinabgelassen. Versetzen Sie sich in diese Lage, dazu eben erst verhaftet, wenn innen drin alles nur so brodelt.
Schwer zu entscheiden, ob die Gleichförmigkeit der Instruktionen an alle Sonderabteilungen der Roten Armee oder die Ähnlichkeit der feldmäßigen Bedingungen zur großen Verbreitung dieser Methode geführt haben. In der 36. Panzergrenadierdivision, die an den Kämpfen von Chalchin Gol teilgenommen hatte und 1941 in der mongolischen Wüste stand, wurde dem Frischverhafteten ohne jede Erklärung ein Spaten in die Hand gedrückt, auf daß er eine in ihren Maßen genau vorgeschriebene grab förmige Grube aushebe (hier kommt das psychologische Moment hinzu!). Sobald der Verhaftete bis über den Gürtel in der Erde steckte, ließ man ihn aufhören; nun mußte er sich in der Grube niedersetzen: sein Kopf war nicht mehr zu sehen. Ein Wachsoldat konnte mehrere Gruben bewachen, und es schien, als wäre rundum alles leer. Die Wüstenhäftlinge wurden in der mongolischen Gluthitze unbedeckt und in der nächtlichen Kälte unbekleidet gehalten, ganz ohne Folter – wozu Kraft darauf verschwenden? Die Tagesration war: hundert Gramm Brot und ein Glas Wasser. Leutnant Tschulpenjow, ein Hüne und Boxer, einundzwanzig Jahre alt, verbrachte in der Grube einen Monat. Nach zehn Tagen war er von Läusen übersät. Nach fünfzehn Tagen holten sie ihn erstmals zum Verhör.
18. Den Untersuchungshäftling knien lassen – nicht im übertragenen Sinne in die Knie zwingen, nein, im direkten: richtig knien lassen und daß er sich nicht auf die Fersen setzt und den Rücken geradehält. Im Zimmer des Untersuchungsrichters, im Gang draußen kann einer 12 Stunden lang knien, 24, 48 … (Der Untersuchungsrichter darf inzwischen nach Hause gehen, schlafen, sonstwie sich amüsieren, das System funktioniert: ein Posten neben dem Knienden, die Wachen lösen einander ab.)
Bei wem nun bewährt sich das Knien? Bei einem, der schon geknickt ist, schon kapitulationsgeneigt ist. Am besten bei Frauen. – Iwanow-Rasumnik erwähnte eine Variante: Dem vor ihm knienden jungen Lordkipanidse urinierte der Richter ins Gesicht! Und dann? Lordkipanidse, dem mit nichts anderem beizukommen war, zerbrach daran. Woraus zu folgern ist, daß es sich auch bei den Stolzen bewährt …
19. Oder ganz einfach stehen lassen. Vielleicht nur während der Verhöre, auch das macht müde und mürb. Vielleicht auch umgekehrt bei den Verhören den Häftling sitzen lassen, ihn nur von Verhör zu Verhör auf den Beinen halten (ein Posten wird neben dem Stehenden aufgepflanzt, der Wärter paßt auf, daß er sich nicht anlehnt und mit Tritten wieder auf die Beine gebracht wird, so er
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