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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Kommunistischen Partei beitraten. Und wir waren es auch, die nun schwarz angeschrieben standen, nur darum, weil wir dennoch am Leben geblieben sind.
    Als wir Ostpreußen durchschnitten, sah ich die tristen Kolonnen der heimkehrenden Gefangenen, sie allein im Leid, als rundherum alles in Freude war – und schon damals hat mich ihre Freudlosigkeit angerührt, obwohl ich deren Ursache noch nicht mitbekam. Ich sprang aus dem Auto, ging hin zu diesen freiwilligen Kolonnen. (Warum Kolonnen? Warum ordneten sie sich in Reih und Glied? Niemand zwang sie dazu; die Kriegsgefangenen aller Nationen trotteten einzeln heimwärts! Unsere aber wollten möglichst demütig ankommen.) Dort hatte ich die Hauptmannsuniform an, darum war es, wegen der Achselstücke und zudem am Straßenrand, nicht zu erfahren: Warum sind sie denn so unlustig alle? Bald aber trug auch mich das Schicksal ihnen nach; gemeinsam marschierten wir bereits von der Armeeabwehr in die Frontabwehr, da bekam ich ihre ersten, mir noch unklaren Erzählungen zu hören; später breitete Jurij J. dies alles vor mir aus und nun, und hier, unter den Kuppeln des ziegelroten Butyrka-Schlosses fühlte ich, wie mich diese Geschichte der mehreren Millionen russischer Gefangener für immer durchbohrte – wie die Stecknadel eine Küchenschabe. Mein eigener Häftlingswerdegang erschien mir nun nichtig, längst hatte ich vergessen, mich um die abgerissenen Achselklappen zu grämen. Dort, wo meine Altersgenossen waren, da war ich nur zufällig nicht dabei gewesen. Ich begriff, daß es meine Pflicht war, die Schulter unter einen Zipfel ihrer gemeinsamen Last zu schieben und daran zu tragen bis zum letzten, bis sie mich unter sich begrub.
    Bisweilen möchten wir gern lügen, doch die Zunge läßt es nicht zu, die Sprache macht nicht mit. Richter, Staatsanwälte und Verhörer haben diese Menschen zu Verrätern erklärt, doch sie irrten sehr bezeichnend in der Wahl des Wortes. Und die Verurteilten selbst, das Volk gleichwie die Zeitungen wiederholten es und verfestigten diesen Fehler und gaben unwillkürlich die Wahrheit preis: sie hätten als Verräter an der Heimat gelten sollen und wurden dennoch nirgendwo anders genannt, die Gerichtsprotokolle mit eingeschlossen, als «Verräter der Heimat».
    Du sagst es! Sie waren nicht an ihr Verräter, es waren ihre Verräter. Nicht sie, die Unglücklichen, hatten die Heimat verraten, von ihr, der berechnenden Heimat, sind sie verraten worden, dreifach verraten sogar.
    Der erste Verrat war der stümperhafte auf dem Schlachtfeld, als die von der Heimat lobgesungene Regierung alles in ihren Kräften Stehende unternahm, um den Krieg zu verlieren: Sie hatte die Befestigungslinien zerstört, die Luftwaffe der Vernichtung preisgegeben, Panzer und Artillerie kampfunfähig gemacht, der Truppe die tüchtigsten Generäle genommen und den Armeen jeden Widerstand untersagt. Die Kriegsgefangenen, das waren ja die Soldaten, die mit ihren Leibern den ersten Schlag auffingen und die deutsche Wehrmacht zum Stehen brachten.
    Zum zweiten Mal verriet sie die Heimat herzlos, als sie die in der Gefangenschaft Krepierenden im Stich ließ.
    Und nun verriet sie sie gewissenlos zum dritten Mal, indem sie sie mit Mutterliebe in ihren Schoß lockte («Die Heimat hat verziehen! Die Heimat ruft euch!»), um ihnen an der Grenze schon die Schlinge um den Hals zu werfen.
    Man könnte meinen, es sei genug Abscheuliches in den elfhundert Jahren unserer staatlichen Existenz geschehen, genug davon erlebt worden! Doch diese vielmillionenfache Niedertracht: seine Kriegsmänner zu verraten und sie auch noch zu Verrätern zu erklären – wo hat es das sonstwann gegeben?!
    So viele Kriege Rußland geführt hat (weniger wären besser gewesen) – hat’s denn viele Verräter gegeben in all den Kriegen? Ist’s denn vermerkt worden, daß der russische Soldat fürs Verraten besonders anfällig wäre? Aber da gab es nun unter der gerechtesten aller Ordnungen den allergerechtesten Krieg – und Millionen des allereinfachsten Volkes waren Verräter. Wie das verstehen? Womit erklären?
    Seit an Seit mit uns kämpfte das kapitalistische England, von wo uns das Elend und Leid der arbeitenden Klasse dank Engels so drastisch überliefert wurde: Ja, warum hat sich dann bei ihnen in diesem Krieg bloß ein einziger Verräter gefunden – der Businessman «Lord Haw-Haw» – und bei uns Millionen?
    Angst und bang wird’s einem zwar, mal den Mund aufzumachen, aber: Vielleicht liegt es doch an der

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