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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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dem Mittagessen gebracht, wie sonst auf der Lubjanka nur am 1. Mai und am 7. November üblich.
    Nur daraus errieten wir das Ende des Krieges.
    Abends schossen sie wieder ein Feuerwerk mit dreißig Salven ab. Nun gab es keine Hauptstadt mehr einzunehmen. Am selben Abend – ein zweites Salutschießen, mit vierzig Salven, scheint’s –, das war dann das allerletzte Ende.
    Über den Maulkorb unseres Fensters hinweg, über die Maulkörbe der anderen Zellen der Lubjanka und sämtlicher Gefängnisfenster Moskaus schauten auch wir, die ehemaligen Kriegsgefangenen und ehemaligen Frontkämpfer, in den feuerwerklich bunten, strahlendurchzogenen Moskauer Himmel.
    Boris Gammerow, ein junger Panzerabwehrschütze, bereits wegen dauernder Invalidität demobilisiert (unheilbarer Lungendurchschuß), bereits mit einer fröhlichen Studentenschaft hochgegangen, saß an diesem Abend in einer dichtbevölkerten Lubjankazelle, die Hälfte Gefangene und Soldaten von der Front. Diesen letzten Salut beschrieb er in einem kurzen Gedicht, in acht alltäglichen Zeilen: wie sie auf den Pritschen schon lagen, die Uniformmäntel übergezogen; wie der Lärm sie aufgeweckt; wie sie die Köpfe hoben, zum Maulkorb hinblinzelten: ah, ein Salut …; sich niederlegten wieder, «mit den Mänteln zugedeckt».
    Immer mit denselben Uniformmänteln – im Schlamm der Schützengräben, in der Asche der Lagerfeuer, im Gefetze der deutschen Granatsplitter.
    Nicht für uns war jener Sieg. Nicht für uns jener Frühling.

6
Jener Frühling
    Im Juni 1945 drangen an jedem Morgen und an jedem Abend blecherne Marschtöne an die Fenster des Butyrka-Gefängnisses; sie kamen von irgendwo in der Nähe, von der Lesnaja oder von der Nowoslobodskaja, lauter Märsche, und die Kapelle begann wieder und wieder von vorn damit.
    Wir aber standen an den weit geöffneten Fenstern, vor uns die schmutziggrünen Maulkörbe aus drahtbewehrtem Glas – und horchten. Warn’s Armeetruppen, die da marschierten? – oder Werktätige, die sich nach Arbeitsschluß freudig im Gleichschritt ergingen? Wir wußten es nicht, obwohl doch auch wir schon das Gerücht aufgefangen hatten, daß eine große Siegesparade auf dem Roten Platz bevorstand, anberaumt auf den 22. Juni, den vierten Jahrestag des Kriegsausbruchs.
    Die Steine, die im Fundament zu liegen kommen, haben zu ächzen und in der Erde sich festzugraben, die Krönung des Gebäudes ist anderen beschieden. Doch selbst ehrenvoll im Fundament zu liegen, ist jenen verwehrt worden, die sinnlos verlassen und von Anbeginn verloren ihre Stirn und die Rippen hinhalten mußten, die ersten Schläge dieses Krieges aufzufangen und den fremden Sieg zu vereiteln.
    «Was sind dem Verräter die Klänge voller Wonne?»
    Jenes Frühjahr 1945 war in unseren Gefängnissen vornehmlich ein Frühjahr der russischen Kriegsgefangenen. Wie die Heringszüge im Ozean, so durchzogen sie, ein unübersehbarer dichter grauer Strom, die Gefängnisse der Union. Mit Jurij J. hatte mich solch ein Zug vorerst nur gestreift, nun stand ich mittendrin in ihrem steten und sicheren Vorwärtsstürmen zu einer ihnen scheinbar bewußten Bestimmung.
    Nicht nur Kriegsgefangene passierten die Zellen, ein Strom hatte zu fließen begonnen, der alle erfaßte, die in Europa gewesen: die Emigranten der Bürgerkriegszeit; die Ostarbeiter des Krieges mit Deutschland; die Offiziere der Roten Armee, die in ihren Schlußfolgerungen zu scharf waren und zu weit damit gingen, so daß Stalin befürchten konnte, sie würden aus dem europäischen Feldzug den Wunsch nach europäischen Freiheiten heimbringen, wie’s bereits vor hundertzwanzig Jahren geschah. Und doch bestand das Gros aus Kriegsgefangenen. Und unter den Kriegsgefangenen verschiedener Jahrgänge gehörten die meisten zu meinen Altersgenossen, noch genauer gesagt: zu den Altersgenossen der Revolution, zu den Oktobergeborenen, den unbekümmerten Scharen, die 1937 die Demonstrationszüge zum zwanzigsten Jahrestag füllten, zu dem Jahrgang, der zu Kriegsbeginn die Kaderarmee stellte, die binnen weniger Wochen zerrieben ward.
    So wurde jener unter Siegesmärschen sich dahinschleppende Frühling zum Sühnefrühling meiner Generation.
    Wir waren es, denen man das «Alle Macht den Sowjets!» an der Wiege gesungen. Wir waren es, die die braungebrannten Kinderhände nach den Pioniertrompeten ausstreckten und auf den Ruf «Seid bereit!» unser «Immer bereit!» salutierten. Wir waren es, die in Buchenwald Waffen versteckten und dort der

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