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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Staatsordnung?
    Alle westlichen Völker haben es auch in diesem Krieg nicht anders gehalten: Ein Strom von Paketen und Briefen und jederart Unterstützung floß frei über die neutralen Länder. Die westlichen Gefangenen mußten sich nicht erniedrigen, aus dem deutschen Kessel zu schöpfen; voll Verachtung sprachen sie mit den deutschen Wachen. Die westlichen Regierungen rechneten ihren in Gefangenschaft geratenen Soldaten die Dienstjahre, die fälligen Beförderungen, ja, sogar den Heeressold an.
    Nur der Angehörige der in aller Welt einzigen Roten Armee ergibt sich nicht dem Feind ! – so stand es im Reglement («Iwan – gefangen, njet ?», wie’s uns die Deutschen aus ihren Stellungen zuriefen) –, doch wer hätte sich den Sinn davon vorstellen sollen?! Den Krieg gibt’s und den Tod gibt’s und die Gefangenschaft soll’s nicht geben! – eine umwerfende Entdeckung! Das bedeutet: Geh hin und stirb, wir aber bleiben am Leben. Doch wenn du auch auf Krücken aus der Gefangenschaft heimgehumpelt kommst, zwar beinamputiert, aber lebend – wir werden zu Gericht sitzen über dich.
    Nur unser Soldat, der von der Heimat abgewiesene und ein Nichts in den Augen von Feind und Alliierten, nur er lechzte nach dem Schweinegebräu, das er auf den Hinterhöfen des Dritten Reichs vorgesetzt bekam. Nur ihm war der Weg nach Hause unpassierbar versperrt, bloß wollten es die grünen Gemüter nicht glauben: Einen Artikel 58,1 b soll’s geben, wonach in Kriegszeiten aufs Gefangennehmenlassen keine mildere Strafe steht als der Tod durch Erschießen! Weil der Soldat an der deutschen Kugel nicht sterben wollte, soll er nach der Gefangenschaft einer sowjetischen das Genick hinhalten! Anderen – die fremde, unseren – die heimische.

    Wenige Kriegsgefangene haben als freie Männer die sowjetische Grenze überschritten, und wenn einer im Wirrwarr durchgesickert war, dann wurde er später geholt, egal, ob man schon 1946/47 schrieb. Die einen wurden an den Sammelpunkten in Deutschland verhaftet. Die anderen blieben scheinbar frei, bloß daß man sie ab der Grenze in Viehwagen und unter Bewachung in eines der zahlreichen, über das ganze Land verstreuten Prüf-und Filtrationslager (PFL) beförderte. Diese Lager unterschieden sich in nichts von den Zwangsarbeitslagern ITL, das Besondere bestand nur darin, daß die Insassen noch keine Strafen hatten und im Lager selbst auf das Urteil warten mußten. All diese PFLs standen nicht abseits, waren Betrieben, Bergwerken und Baustellen zugeordnet, so daß sich die früheren Kriegsgefangenen, die wiedergewonnene Heimat von hinterm Stacheldraht wie vordem Deutschland beäugend, vom ersten Augenblick an in den zehnstündigen Arbeitstag eingliedern konnten. Zur Mußestunde, an den Abenden und in den Nächten, wurden die zu Überprüfenden verhört, zu welchem Berufe die PFLs mit einer Vielzahl von Einsatzbeamten und Untersuchungsrichtern bestückt waren. Wie immer begann der Untersuchungsrichter mit der Feststellung, daß man unbesehen schuldig sei. Und man hatte, rundum vom Stacheldraht eingekreist, die Beweise zu erbringen, daß man un schuldig war. Dazu mußte man Zeugen nennen, andere Kriegsgefangene, die genausogut in ein tausend Meilen weit entferntes PFL eingeliefert worden sein konnten; so kam es, daß die Einsatzleute aus Kemerowo an diejenigen von Solikamsk um Auskunft schrieben, worauf dort Zeugen befragt und Antworten und neue Anfragen verschickt wurden, so daß aus dem Erstbefragten selbst ein Zeuge wurde. Ein Jahr konnte es wohl dauern, bis ein Schicksal aufgeklärt war, auch zwei bisweilen, was tut’s, wenn nur die Heimat daran keinen Schaden nahm: Tagsüber wurde ja Kohle gefördert. Und wenn ein Zeuge auch Falsches ausgesagt hatte und ein anderer nicht mehr lebend vorgefunden wurde, war’s niemandes Nachteil als der des Verdächtigen selbst: als Vaterlandsverräter wurde er verbucht und bei der auswärtigen Tagung des Tribunals mit einem Zehner -Stempel versehen. Wenn aber, trotz ihres großen Mühens, alles dafür sprach, daß man bei den Deutschen tatsächlich nicht gedient, mehr noch – weder Engländer noch Amerikaner jemals zu Gesicht bekommen hatte (daß man aus dem Lager nicht von uns, sondern von ihnen befreit wurde, galt als erschwerender Umstand), oblag es den Einsatzbeamten zu entscheiden, welcher Stufe der Isolation man würdig sei.
    «Ach, hätt ich’s doch gewußt! …» Das war der Hauptrefrain in den Gefängniszellen jenes Frühjahrs. Hätt ich doch gewußt,

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