Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
– kein anderes solches habe ich in meinem ganzen Leben gesehen!
«Menschen …», brachte er schwach hervor, wie aus einer Ohnmacht erwachend, als hätte er in der vergangenen Nacht auf seine Hinrichtung gewartet.
So kam Jurij Nikolajewitsch J. in unsere Zelle, nach drei Wochen Aufenthalt in einer unterirdischen Box.
In jedem Leben gibt es ein Ereignis, das den ganzen Menschen bestimmt – sein Schicksal genauso wie seine Überzeugungen, wie seine Passionen. Die zwei Jahre in diesem Lager haben Jurij durchgerüttelt und anders gemacht. Es war, was dieses Lager war, mit Worten nicht zu umwinden, mit Syllogismen nicht zu durchdringen – in diesem Lager hatte ein Mensch zu sterben, und wer nicht starb, mußte Schlüsse ziehen.
Jenes Gebräu, um das sich die kriegsgefangenen Offiziere um sechs Uhr früh anstellten, wofür sie von den Ordnern mit Stöcken und von den Köchen mit der Schöpfkelle geprügelt wurden – dieses Gebräu konnte einen Menschen nicht am Leben erhalten. An den Abenden sah nun Jurij aus dem Fenster ihres Verschlages jenes einzige Bild, um dessentwillen ihm die Kunst des Malens geschenkt worden war: abendliche Nebelschwaden über der versumpften Wiese, Stacheldraht ist um die Wiese gezogen, viele Feuer brennen darauf, und rundherum sitzen vormals russische Offiziere, nunmehr tierhafte Wesen, die an den Knochen der verendeten Pferde nagen, Fladen aus Kartoffelschalen backen, Dünger rauchen und über und über von Läusen wimmeln. Noch sind diese Zweibeiner nicht alle verreckt. Noch haben sie nicht alle das artikulierte Sprechen verlernt, und man erspäht im glutroten Widerschein des Feuers, wie ein spätes Erkennen ihre Gesichter durchfurcht, bevor sie zu den Neandertalern hinabsinken.
Bitterkeit auf den Lippen! Das Leben, das sich Jurij bewahrt, ist ihm für sich allein nicht mehr lieb. Er gehört nicht zu jenen, die leicht zu vergessen bereit sind. Nein, sein Los ist das Überleben – er muß Schlüsse ziehen.
Das haben sie bereits erfahren, daß es nicht an den Deutschen liegt, oder zumindest nicht nur an den Deutschen, daß es von den Gefangenen aller Nationalitäten nur den sowjetischen so ergeht, so ans Sterben geht – niemandem schlimmer als ihnen. Selbst die Polen, selbst die Jugoslawen haben es erträglicher, na, und die Engländer, na, und die Norweger, die werden mit Paketen vom Internationalen Roten Kreuz und von zu Hause überhäuft, die holen sich die deutschen Rationen gar nicht ab. Dort, wo die Lager nebeneinander liegen, werfen die Alliierten den Unsrigen barmherzige Almosen über den Stacheldraht, und die Unsrigen fallen darüber her wie ein Rudel Hunde über den Knochen.
Auf den Russen lastet der ganze Krieg – und den Russen solch ein Los. Warum das?
Und wie sich nun richtig verhalten, wenn uns die Mutter den Zigeunern verkauft, nein, schlimmer – den Hunden vorgeworfen hat? Bleibt sie uns noch eine Mutter? Wenn die Frau auf den Strich geht, sind wir ihr dann noch zur Treue verpflichtet? Eine Heimat, die ihre Soldaten verrät – ist sie denn Heimat?
Als im Frühjahr 1943 im Lager die Werbung für die ersten bjelorussischen «Legionen» anlief, meldete sich mancher, um dem Hunger zu entgehen; Jurijs Entschluß war fest und klar: Er wurde Leutnant der deutschen Armee …
Jurij blieb in unserer Zelle nicht länger als drei Wochen. Und die ganze Zeit über stritten wir miteinander. Ich sagte, daß unsere Revolution etwas Wunderbares und Gerechtes gewesen sei, nur ihre Verzerrung im Jahre 1929 fand ich schlimm. Er sah mich bedauernd an und preßte die nervösen Lippen zusammen.
Zum 1. Mai wurde die Verdunkelung vom Fenster genommen. Der Krieg ging sichtbar seinem Ende zu.
Es war wie sonst niemals still an diesem Abend auf der Lubjanka, ob’s nicht gerade auch der Zweite Ostertag war? Die Feiertage überschnitten sich. Die Untersuchungsrichter vergnügten sich in der Stadt, Verhöre gab es nicht. In der Stille war zu hören, wie jemand gegen irgend etwas protestierte. Er wurde aus der Zelle in die Box geschleift (wir errieten durchs Gehör die Lage aller Türen), und sie prügelten ihn dort lange bei geöffneter Tür. In der versunkenen Stille war jeder Schlag ins Weiche und in den röchelnden Mund deutlich zu hören.
Am 2. Mai böllerte Moskau mit dreißig Salven, das bedeutete: Eine europäische Hauptstadt ist gefallen. Es waren nur mehr zwei uneingenommen geblieben: Prag und Berlin, zu raten gab’s, welche von beiden.
Am 9. Mai wurde das Nachtmahl gleich mit
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