Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Umgebung.)
So kommt es, daß der bleischwere Schatten des morgigen Lagerkampfes dem Neuling die geistigen Freuden des Durchgangsgefängnisses in vielerlei Richtungen verdeckt.
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Die Sklavenkarawanen
Lausig ist die Fahrt im Stolypin, verwünscht der Schwarze Rabe, eine arge Marter wird dir bald auch die Peresylka – besser wär’s, gleich drum herum geradewegs mit den roten Waggons ins Lager zu kommen.
Die Interessen des Staates und die des Individuums fallen wie immer auch hier zusammen. Für den Staat ist’s ebenfalls von Vorteil, die Verurteilten direkt ins Lager zu bringen, sich die vielen Umsteigemanöver mit der daraus folgenden Belastung der öffentlichen Verkehrswege und -mittel bzw. des Peresylka-Personals zu ersparen. Im GULAG war dies längst verstanden und vorzüglich gelöst worden: Man behalf sich mit den roten Karawanen (aus roten Viehwaggons zusammengestellt), mit Karawanen aus Schleppkähnen und dort, wo es weder Geleise noch Flüsse gab, schlechtweg mit Fußkarawanen (Pferde und Kamele auszubeuten, stand den Sträflingen nicht zu).
Die roten Züge sind immer dann rentabel, wenn irgendwo Gerichte auf Hochtouren arbeiten oder irgendwo ein Durchgangslager überfüllt ist. Da läßt sich ein großer Haufen von Häftlingen leicht auf einmal expedieren. So wurden die Millionen von Bauern in den Jahren 1929–31 befördert. So wurde Leningrad aus Leningrad deportiert. In den dreißiger Jahren dienten sie zur Besiedlung von Kolyma. Täglich spie die Hauptstadt unserer Heimat einen solchen roten Viehtransport aus; Bestimmungsorte waren die fernöstlichen Häfen Sowgawan und Wanino. Und jede Gebietsstadt schickte einen roten Zug nach dorthin, allerdings nicht an jeglichem Tag. 1941 wurde die Republik der Wolgadeutschen solcherart nach Kasachstan verfrachtet, und mit allen übrigen Nationen verfuhr man seither ebenso. 1948 fuhren Rußlands verlorene Söhne und Töchter in solchen Transporten: aus Deutschland, aus der Tschechoslowakei, aus Österreich; und wer von selbst an die westliche Grenze kam, wurde ebenfalls mitgenommen. 1949 wurden die Achtundfünfziger mit roten Zügen in die Sonderlager verlegt.
Die Stolypins haben sich an den banalen Fahrplan zu halten, die roten Transporte fahren mit wichtigen Ordern, die die Unterschrift wichtiger GULAG-Generäle tragen. Der Stolypin kann nicht einfach ins Leere fahren, er braucht einen Bestimmungsbahnhof, und sei’s das letzte Krähwinkel, wo es obendrein auch mindestens eine Arrestzelle mit vier Wänden und einem Dach darüber geben muß. Ein roter Zug kann auch ins Leere fahren: Wo er stehenbleibt, taucht aus dem Meer – dem Steppenmeer, dem Taigameer, irgendwo – sogleich eine neue Insel des Archipels auf.
Von den roten Waggons ist keineswegs jeder beliebige sogleich zum Gefangenentransport geeignet. Eine gewisse Umgestaltung tut not. Nicht in jenem Sinn muß er vorbereitet und umgebaut werden, wie der Leser vielleicht annimmt: daß sie ihn von der Kohle oder dem Kalk sauberkehren, die vor den Menschen damit befördert wurden – darauf kann verzichtet werden. Auch nicht in dem Sinne umgebaut, daß sie, wenn gerade Winter ist, die Fugen abdichten und einen Ofen reinstellen. (Als die Eisenbahnstrecke von Knjasch-Pogost bis Roptscha gebaut, aber noch nicht dem Eisenbahnnetz angeschlossen war, wurde sie sofort für den Häftlingstransport genutzt. Man verlud die Leute in Waggons, die weder Öfen noch Pritschen hatten, darin lagen sie im Winter auf dem schneebedeckten Boden, bekamen zudem nichts Warmes während der Fahrt, weil der Zug die Strecke in stets weniger als vierundzwanzig Stunden schaffte. (Wer in Gedanken diese achtzehn bis zwanzig Stunden darin erleben und überleben kann, der tu’s!) Der erforderliche Umbau bestand indes in folgendem: Es mußten die Wände, Decken und Böden auf Intaktheit und Stabilität geprüft, die kleinen Fensterluken sicher vergittert, im Boden ein Abflußrohr gebohrt und selbiges durch einen nagelbeschlagenen Blechschutz abgesichert, über die ganze Zuggarnitur in regelmäßigen und zweckdienlichen Abständen Flachwagen (für Wachtposten mit Maschinengewehren) verteilt, notfalls fehlende Plattformen nachbestellt, Leitern zum Besteigen der Dächer installiert, der Aufstellungsplan für die Scheinwerfer durchdacht und eine pannensichere Stromversorgung gewährleistet, langstielige Holzhammer angefertigt, ein Stabswagen mit Kupees angehängt oder in Ermangelung eines solchen ein gut eingerichteter heizbarer Güterwagen
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