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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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im Zeichen einer höflich erwiderten Gastfreundschaft das Angebot machte, den ganzen Kapitalismus nebst Vater öffentlich zu verfluchen, wofür dem jungen Mann als Gegenleistung ein kompletter kapitalistischer Lebensunterhalt bei uns in Aussicht gestellt wurde. Doch zu Gromykos größtem Erstaunen schlug Erik, obwohl er durch die Aktion keinen materiellen Schaden erlitten hätte, das Angebot empört und mit beleidigenden Worten aus. Da sie seiner Standhaftigkeit keinen Glauben schenkten, sperrten sie ihn in eine Datscha bei Moskau, fütterten ihn wie einen Prinzen im Märchen (bisweilen gab es arge «Repressionen»: Dann durfte er sich das Menü nicht selber auswählen, mußte statt des Hähnchens mit einem Entrecôte vorliebnehmen), bearbeiteten ihn mit Werken von Marx-Engels-Lenin-Stalin und warteten ein Jahr lang auf das positive Ergebnis der Umerziehung. Erstaunlicherweise blieb auch dieses aus. Also gaben sie ihm einen Wohngenossen, einen Generalleutnant, der bereits zwei Jahre in einem Norilsker Lager auf dem Buckel hatte. Sie meinten wohl, den jungen Mann durch des Generalleutnants Schreckensberichte kleinzukriegen, doch weh, die Rechnung ging nicht auf, sei’s, daß der General den Auftrag schlecht erfüllte, sei’s, daß er ihn nicht erfüllen wollte. In den zehn Monaten gemeinsamen Sitzens brachte er es lediglich zuwege, Erik einige Brocken Russisch beizubringen und den in ihm erwachenden Abscheu gegen die Blaubelitzten zu festigen. Im Sommer 1950 wurde Erik nochmals zu Wyschinski geholt und lehnte nochmals ab (ganz wider aller Regeln das Sein mit dem Bewußtsein übertrumpfend!). Worauf ihm von Abakumow persönlich das Urteil verlesen wurde: zwanzig Jahre Gefängnishaft (wofür?). Längst reute es sie selber, sich mit diesem Flegel angelegt zu haben, aber was tun? Doch nicht in den Westen ihn laufenlassen? Und so kam es, daß er im eigenen Abteil auf die Reise gebracht wurde, durch die Wand die Erzählung des Moskauer Mädchens zu hören und am Morgen durchs Fenster das morschlattige, strohüberdeckte Rjasaner Rußland zu sehen bekam.
    Diese zwei Jahre hatten ihn in der Treue zum Westen entschieden bestärkt. Er glaubte blind an ihn, wollte seine Schwächen nicht einsehen, hielt die westlichen Armeen für unbezwingbar, seine Politiker für unfehlbar. Er glaubte uns nicht, wenn wir ihm berichteten, daß sich Stalin vor einigen Monaten zur Blockade von Berlin entschlossen und daß der Westen ihn hatte gewähren lassen. Eriks cremebleiches Gesicht flammte vor Zorn, wenn wir uns über Churchill und Roosevelt lustig machten. Um so weniger zweifelte er daran, daß der Westen seine, Eriks, Gefangennahme nicht dulden würde; es brauchte bloß eine kurze Zeit, bis die Geheimdienstagenten aus der Kuibyschewer Peresylka erfuhren, daß er nicht in der Spree ertrunken war, sondern in der Sowjetunion festsaß, aber dann würden sie ihn loskaufen oder austauschen. (In diesem Glauben an die Besonderheit des eigenen Schicksals gegenüber jenem der übrigen Häftlinge glich er unseren wohlgesinnten Orthodoxen.) Trotz unserer stürmischen Wortgefechte lud er meinen Freund und mich ein, ihn bei Gelegenheit in Stockholm zu besuchen. («Da kennt uns jeder», sagte er dann mit einem traurigen Lächeln, «mein Vater hält bald den ganzen Hof des schwedischen Königs aus.») Mittlerweile aber hatte der Sohn des Milliardärs nichts, um sich abzutrocknen, und ich schenkte ihm von mir ein zerschlissenes Handtuch. Kurz darauf wurde er zur Weiterverfrachtung abgeholt.
    Wenn sich die menschliche Natur überhaupt ändert, dann doch auch nicht um vieles schneller als das geologische Antlitz der Erde. Und was die Sklavenhändler vor fünfundzwanzig Jahrhunderten bei der Auswahl einer weiblichen Ware an Neugierde, Genüßlichkeit und Kauflust empfanden, das war natürlich auch den GULAG-Beamten nicht fremd, als sich im Gefängnis von Usman, im Jahr 1947, zwei Dutzend Männer in den Uniformen des MWD um einige mit weißen Bettüchern gedeckte Tische placierten (die Leintücher waren der Bedeutsamkeit halber herbemüht worden, ganz ohne schien es doch irgendwie unpassend), während die gefangenen Frauen, nachdem sie sich in der Nachbarbox ausgezogen hatten, nackt und bloßfüßig an ihnen vorbeigehen, sich drehen, stehenbleiben, Fragen beantworten mußten. «Hände runter!» wurde jene angewiesen, die in die schützende Pose antiker Statuen flüchteten. (Die Offiziere nahmen’s halt ernst mit der Auswahl der Konkubinen für sich und ihre

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