Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
und zeigen: Alle Mann nach links! Das heißt, daß die linken liegenbleiben und die rechten hurtig hinüberspringen müssen, wie Flöhe, einer übern andern, hoppla, schnell! Wer nicht flink ist, wer nicht aufgepaßt hat, der bekommt zur Aufmunterung den Hammer in die Seite, in den Rücken, hoppla, schnell! Schon steigen Soldatenstiefel über euer ärmliches Lager, schon liegen eure Siebensachen auf dem Boden verstreut, das Licht brennt, die Hämmer klopfen: ob nirgends ein Brett angesägt ist. Nein. Also stellen sich die Wachen in der Mitte auf, nun müßt ihr, damit sie euch zählen können, von links nach rechts an ihnen vorbei:
«Eins! … zwei! … drei! …» Einfaches Zählen hätte wohl gereicht, mit der Hand ein Wink – und weiter, doch da gäb’s ja keine Angst, nein: anschaulicher, fehlerloser, munterer und schneller rollt die Sache, wenn man die Zahl mit immer demselben Hammer auf eure Schultern, Köpfe, wohin immer man trifft, trommelt. Das Abzählen ist zu Ende: vierzig. Nun muß noch die linke Seite vom Gerümpel freigemacht, ausgeleuchtet und abgeklopft werden. Fertig. Sie gehen, sperren den Waggon ab.
Von den anderen Expreßfernzügen unterscheidet sich der rote Eilzug dadurch, daß die Einsteigenden niemals wissen können, ob sie jemals wieder aussteigen werden. Als in Solikamsk ein Transport aus Leningrader Gefängnissen entladen wurde (1942), war der ganze Bahndamm mit Leichen bedeckt, nur wenige Insassen kamen lebend an. Die in den Wintern 1944/45 und 1945/46 in der Siedlung Schelesnodoroschnyj (Knjasch-Pogost), wie auch in anderen wichtigen Knotenpunkten des Nordens, ankommenden Häftlingstransporte aus den befreiten Gebieten – aus dem Baltikum, aus Polen, aus Deutschland – führten einen oder zwei Waggons Leichen mit sich. Das bedeutet aber, daß sie die Toten unterwegs aus den lebenden Wagen herausholten, was indes nicht immer so gehandhabt wurde. In der Station Suchobeswodnaja geschah’s oft genug, daß man erst nach dem Öffnen der Waggontüren erfuhr, wie viele lebendig, wie viele tot angekommen waren: Wer nicht herausgekrochen kam, war mithin tot.
Schrecklich und tödlich ist die Fahrt im Winter, denn die Konvoisoldaten haben mit dem Wachsamsein alle Hände voll zu tun; zum Kohlenschleppen für fünfundzwanzig Öfen reicht die Kraft nicht mehr. Doch auch in der Hitze zu fahren ist kein reines Honiglecken: Von den vier kleinen Fensterluken sind zwei luftdicht zugemacht, das Dach ist glühend heiß; Wasser für tausend Menschen zu schleppen hieße von den Wachmannschaften vollends zuviel verlangen, wo sie doch schon mit einem Stolypin nicht zu Rande kommen. Als beste Transportmonate gelten darum unter den Häftlingen der April und der September. Freilich reicht auch die beste Saison nicht aus, wenn der Zug drei Monate unterwegs ist (Leningrad – Wladiwostok, 1935).
Ach was, verflucht sei er auch, der direkte rote Viehexpreß! Und brauchst du hundertmal nicht umzusteigen – verflucht, verflucht! Wer drin gewesen, wird ihn nicht vergessen. Ach, käm doch schon endlich das Lager, schlimmer wird’s wohl nimmermehr. Ach, wenn man doch schon aussteigen könnt!
Endlich sind sie am Ziel. Als erstes geht’s in die Banja, also die Kleider runter und nackt durch den Hof gelaufen, Auskleideraum und Bad befinden sich in verschiedenen Hütten. Trotzdem ist dies alles schon leichter zu ertragen. Das Schwerste haben sie hinter sich, Hauptsache, sie sind angekommen! Es dunkelt. Plötzlich wird verlautet: Im Lager ist kein Platz, die neue Partie kann nicht aufgenommen werden. Und so werden die Neuankömmlinge nach dem Bad wieder aufgestellt, abgezählt, mit ihren Sachen beladen, von Hunden umzingelt und nun in der Finsternis dieselben sechs Kilometer übers selbe Schneefeld zum Zug zurück gejagt.
Und doch war dies ein glücklicher Fall! Denn das Lager war immerhin da, und wenn es heute auch, schlimm genug, den Häftlingen den Eintritt verwehrte, würde es ihnen doch morgen seine Tore öffnen. Angesichts der Eigenschaft der roten Transporte, ins Leere zu fahren und am Nichts anzukommen, wird die Beendigung der Fahrt hingegen nicht selten zum Anstoß für die Gründung eines neuen Lagers, dann kann es ihnen auch geschehen, daß man sie einfach in der Taiga unterm Nordlicht haltmachen läßt und an eine Tanne die Tafel nagelt: «Erster OLP», was soviel wie «Erste Lager-Außenstelle» heißt. Dort werden sie auch glatt eine Woche lang Bücklinge beißen und Mehl mit Schnee vermischen.
Doch
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