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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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holen, rund um die Uhr! Natürlich gibt’s manchen Sachverhalt, der jenen Autoren nicht vertraut ist: Diese Variante, in die Kapuze der Regenjoppe zu pissen, werden sie niemals erraten und schon gar nicht den Rat des Nachbarn verstehn, in den Stiefel zu pinkeln! Ein guter Rat ist’s indes, die Frucht erfahrener Weisheit, der Stiefel nimmt keinen Schaden und wird mitnichten zum Kübel degradiert. Das geht so: Man zieht den Stiefel aus, kippt ihn um, stülpt den Schaft nach außen – und fertig ist das rundtraufige, schmerzlich ersehnte Behältnis! Und erst die sonstigen Usancen im selben Gefängnis von Minussinsk … Welch eine Fülle von psychologischen Windungen könnten die westlichen Autoren zwecks Bereicherung ihrer Literatur daraus gewinnen, ganz ohne Gefahr zu laufen, ins banale Kopieren der berühmten Meister zu verfallen! Da werden zum Essenfassen Schüsseln ausgeteilt: je eine Schüssel für vier Mann; das Trinkwasser bekommt jeder in den eigenen Becher (davon gibt’s genug). Und dann – dann nützte einer von den vieren die Gelegenheit, die gemeinsame Schüssel zum Ablassen des inneren Drucks zu verwenden, gut und schön, aber vor dem Essen weigert er sich auch noch, seinen Wasservorrat fürs Waschen der besagten Schüssel herzugeben. Was für ein Konflikt! Vier Charaktere prallen aufeinander! Was für eine Fülle von Nuancen! (Ich scherze nicht. Auf solche Weise offenbart sich der Bodensatz im Menschen. Bloß daß es der russischen Feder an Zeit fehlt, dies zu beschreiben, und dem russischen Auge an Muße, es zu lesen. Ich scherze nicht, denn nur die Ärzte werden uns sagen, wie einige Monate in solch einem Gefängnis einen Menschen lebenslang zum Krüppel machen, und sei er gar unter Jeschow nicht erschossen und unter Chruschtschow rehabilitiert worden.)

    Es hätte dem Erik Arvid Andersen seine Erzählung niemand abgekauft, wenn er nicht die von der Schere verschonte Lockenpracht vorzuweisen gehabt hätte, fürwahr ein Wunder im Inselland GULAG; wenn nicht diese seine fremdartige Haltung, wenn nicht sein freier Umgang mit der deutschen, englischen und schwedischen Sprache gewesen wäre. Wollte man seinen eigenen Worten glauben, war er der Sohn eines schwedischen nicht nur Millionärs, sondern Milliardärs (na, ob er nicht eine Spur aufgeschnitten hat?), mütterlicherseits jedoch ein Neffe des englischen Generals Robertson, dem die britische Besatzungszone in Deutschland unterstand. Schwedischer Staatsbürger, diente er während des Krieges freiwillig in der britischen Armee und war tatsächlich in der Normandie gelandet; nach dem Krieg wurde er schwedischer Berufsoffizier. Allein, die sozialen Fragen ließen ihm ebenfalls keine Ruhe, das Verlangen nach Sozialismus überwog die Neigung zu den Reichtümern des Vaters. Mit tiefer Sympathie verfolgte er den Aufbau des sowjetischen Sozialismus, konnte sich sogar, anläßlich der Reise einer schwedischen Militärmission, mit eigenen Augen von dessen Blühen und Gedeihen überzeugen. Da wurden Bankette für die Delegation gegeben, Ausflüge ins Grüne organisiert und mitnichten Kontakte mit einfachen sowjetischen Bürgern unterbunden, mit hübschen Schauspielerinnen, die nicht fürchten mußten, zu spät zur Arbeit zu kommen, und ihm gern halfen, sich die Zeit zu vertreiben, dieses auch tête-à-tête. Solcherart endgültig vom Triumph unserer Ordnung überzeugt, trat Erik nach seiner Rückkehr mit rühmenden, allen Verleumdungen wehrenden Artikeln über den sowjetischen Sozialismus in der westlichen Presse auf. Damit aber hatte er übertrieben und sich sein eigenes Grab geschaufelt. In eben jenen Jahren, 1947/48, wurden aus allen Ecken und Enden fortschrittliche westliche junge Leute hervorgezogen, die bereit waren, sich öffentlich vom Westen loszusagen (und es schien, daß es nur mehr einiger weniger Dutzend bedurfte, um den Westen aus den Fugen geraten zu lassen). Derweilen er aber in Westberlin Dienst tat, seine Frau hingegen in Schweden zurückgelassen hatte, pflegte Erik aus verzeihlicher männlicher Schwäche den regelmäßigen Kontakt zu einer jungen und ledigen Ostberliner Maid. Dort schnappten sie ihn denn auch eines Nachts (und das paßt wiederum genau ins Sprichwort: «Ist mal einer zur Gevatterin gegangen, war am End im Turm gefangen.» Das muß wohl von alters her so gewesen sein, da war er nicht der erste.). Man brachte ihn nach Moskau, wo ihm nun Gromyko, der einst im Hause seines Vaters diniert und dortselbst den Sohn kennengelernt hatte,

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