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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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für den Konvoichef, für den Sonderbevollmächtigten und die Wachmannschaft aufgetrieben, sowie Küchen – für die Wachen und für die Häftlinge – eingerichtet werden. Erst dann kann man die Waggonreihe abmarschieren und mit Kreide markieren: «Spezialausrüstung», oder, bitte, «leichtverderblich». (Jewgenija Ginsburg hat in ihrem Bericht über den «Siebenten Waggon» eine sehr anschauliche Beschreibung der roten Transporte gegeben, darum können wir nun auf viele Einzelheiten verzichten.)
    Die Vorbereitung des Waggons ist zu Ende, zu bewältigen bleibt nur mehr die schwierige militärische Aktion der Sek-Verfrachtung. Hierbei sind zwei unbedingte Grundsätze im Auge zu behalten:
die Geheimhaltung der Transaktion gegenüber der Bevölkerung und
die Terrorisierung der Häftlinge.
    Die erste Forderung ergibt sich daraus, daß solch ein Zug rund tausend Menschen auf einmal aufnimmt (es sind mindestens fünfundzwanzig Waggons), nicht wie der Stolypin eine kleine Gruppe, die auch vor Zuschauern heran-und abgeführt werden kann. Jeder weiß natürlich, daß es Verhaftungen an jedem Tag und zu jeder Stunde gibt, aber solche Furcht den Leuten einzujagen, indem sie gleich alle zusammen zu sehen bekämen, ist zu vermeiden. Wie sollte es in Orjol 1938 verborgen werden, daß es in der Stadt kein Haus gab, aus dem sie nicht einen geholt hatten? Es war ja auch allezeit der Platz vor dem Gefängnis von Bauernwagen mit heulenden Weibern verstopft, genau wie auf dem Surikow-Bild über die Hinrichtung der aufständischen Strelitzen. (Ach, wer malt uns das einmal! Laß die Hoffnung fahren: unmodern wäre es, unmodern …) Dennoch dünkt es sie unangebracht, unseren sowjetischen Menschen zu zeigen, daß sich in vierundzwanzig Stunden eine volle Ladung ansammelt (in Orjol brachten sie es in jenem Jahr zuwege). Auch die Jugend braucht derlei nicht zu sehen – die Jugend ist unsere Zukunft.
    Und darum halten sie sich an die Nacht, treiben nachtein, nachtaus, so etliche Monate hindurch, die schwarzen Kolonnen der fälligen Transporte zu Fuß vom Gefängnis zum Bahnhof (die Raben stehen bei neuen Verhaftungen im Einsatz). Freilich: Die Frauen sind auf der Hut, die Frauen erfahren es und schleichen in den Nächten von allen Enden der Stadt zum Bahnhof und lauern auf einem Nebengeleise dem Zug auf, laufen am Roten entlang, stolpern über Schwellen und Geleise und rufen in jeden Wagen den Namen hinein: «Ist der Soundso drinnen? … der Soundso und der Soundso …?» Und laufen zum nächsten, und neue kommen heran und rufen wieder einen Namen: «Ist er drinnen …?» Und plötzlich hören sie’s aus dem versiegelten Wagen zurückrufen: «Hier! Hier bin ich!» oder «Suchen Sie weiter, er ist im anderen Wagen!» oder «Frauen, hört mich an! Meine Frau wohnt in der Nähe, beim Bahnhof! Hol sie doch bitte wer her.»
    Diese unserer Gegenwart unwürdigen Szenen beweisen einzig und allein die Unfähigkeit der für die Verfrachtungsaktion verantwortlichen Männern. Aus den Fehlern werden die notwendigen Lehren gezogen: Eines Nachts dann – und in allen weiteren Nächten – stoßen die Frauen auf eine breite Sperrkette knurrender und bellender Bluthunde.
    Leichterhand auf das übliche Sonnenlicht verzichtend, macht sich der Konvoi die nächtlichen Sonnen – Scheinwerfer – zunutze. Ihre Vorzüge bestehen darin, daß man sie allesamt am gewünschten Ort scheinen lassen kann, dort, wo der verängstigte Haufen der Häftlinge sitzt, auf das Kommando wartet: «Die nächsten fünf – auf, auf! Marsch im Laufschritt zum Waggon!» (Nur im Laufschritt! Daß er sich nicht umschaut, nicht zur Besinnung kommt, daß er wie von Hunden gehetzt dahinkeucht und bloß Angst hat zu stolpern; auf dem unebenen Pfad, über den sie laufen, und auf der Leiter, über die sie hinaufklettern.) Die feindseligen schemenhaften Strahlenbündel dienen nicht allein der Beleuchtung, sie sind ein wichtiger Bestandteil des zu inszenierenden Schreckens, eine Ergänzung zum scharfen Gebrüll und Gedrohe, zu den Kolbenhieben, die auf die Nachtrabenden niedergehen; zum Kommando «Niedersetzen!» (oder manchmal, wie in Orjol auf dem Bahnhofsplatz: «Niederknien!» – und Tausende sinken wie neue Wallfahrer in die Knie); zu der ganz und gar überflüssigen, für den Schrecken aber sehr wichtigen Hasterei zum Waggon; zum wütenden Bellen der Hunde; zu den in Anschlag gebrachten Waffen (Gewehre oder MPs, je nach dem Jahrzehnt). Hauptsache: daß der Wille des Häftlings mit

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