Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Kopf gebaut wurde, allein, wer ist übriggeblieben, davon zu berichten?), konnten auch 1938 bei weitem nicht alle Häftlinge in den wackeligen, aus Schwartenbrettern gezimmerten, mit Zeltplanen überdeckten, niedrigen Baracken Unterschlupf finden. Ob im Herbst im feuchten Schnee, ob winters im Frost, sie lebten wie in Urzeiten, oben der Himmel, unten die Erde. Ganz steif werden ließ man sie allerdings nicht, stetig wurden sie gezählt, durch Appelle (zwanzigtausend Menschen gab es dort manchmal auf einem Haufen) oder unvermutete nächtliche Filzungen aus der Starrheit gerissen. Später wurden in den Koppeln Zelte aufgeschlagen, stockwerkhohe Blockhäuser gebaut, diese allerdings zwecks vernünftiger Verbilligung des Baus ohne Zwischendecken aufgeführt; statt dessen wurden die Pritschen in gleich sechs Reihen übereinandergetürmt, mit Leitern an der Seite, damit sich die Verkümmerer wie Matrosen hinauf-und hinabhieven konnten (eine Einrichtung, die einem Schiff eher zustand als einem Hafen). – Im Winter 1944/45, als jeder ein Dach überm Kopf hatte, war das Lager mit nur siebeneinhalbtausend Insassen belegt, davon starben täglich fünfzig, und die Tragbahren, auf denen die Leichen fortgebracht wurden, kamen niemals zur Ruh.
Die Durchgangsstelle von Knjasch-Pogost (am 63. nördlichen Breitengrad) war ein Haufen von Hütten, auf Sumpf gebaut! Rund um das Gerüst aus langen Holzknüppeln wurde eine zerrissene Zeltplane gespannt, überm Boden blieb ein breiter Spalt offen. Innen standen doppelte Pritschen, ebenfalls aus (schlecht abgeästeten) Knüppeln, am Boden dazwischen waren Äste geschichtet, unter denen tagsüber das sumpfige Wasser hervorspritzte; nachts fror es ein. Auch an anderen Stellen des Lagers mußten die erschöpften Häftlinge über wackelige schmale Balkenstege balancieren, was Wunder, daß sie ein ums andere Mal ins Wasser, in den Matsch abrutschten. 1938 gab es in Knjasch-Pogost niemals was anderes zu essen als einen Papp aus Graupenhäcksel und Fischgräten. Da das Lager weder Näpfe noch Becher oder Löffel besaß und bei den Häftlingen schon gar nichts zu holen war, erwies sich diese Art Fütterung als die bequemste. Man trieb die Leute in Zehnergruppen zum Kessel und schüttete jedem einen Schöpfer voll in die Mützen oder ins druntergehaltene Gewand.
Die Phantasie der Schriftsteller versagt aufs jämmerlichste vor dem Alltag der Eingeborenen des Archipels. Wer das allerverwerflichste, das allerschändlichste über das Gefängnis schreiben will, der schilt es immer des Pißkübels wegen. Der Kübel im Winkel! Er wurde in der Literatur zum Symbol des Gefängnisses, des Gefangenseins, des himmelschreienden und zum Himmel stinkenden Unrechts. Oh, ihr Leichtmütigen! Als ob der Pißkübel was Böses für den Häftling wär! Barmherzige Kerkermeister haben ihn ersonnen. Denn der Schrecken, der beginnt erst in dem Augenblick, wo besagter Kübel in der Zelle fehlt.
1937 hat es in etlichen Gefängnissen keine Latrinen gegeben, es waren zu wenige vorrätig gewesen! Man hatte es versäumt, die Dinger rechtzeitig in Auftrag zu geben, die sibirische Industrie konnte die immense Kluft des Gefängnisschlundes nicht überbrücken, für die neueröffneten Zellen fanden sich keine Pißkübel in den Magazinen. In den alten Zellen, wo’s die Abtritte gab, waren sie indes zu alt, zu klein und mußten, ein Nichts angesichts der neuen Füllkapazität, in weiser Voraussicht entfernt werden. Wenn also das Minussinsker Gefängnis Anno dazumal für fünfhundert Insassen berechnet und gebaut worden war (Wladimir Iljitsch war nicht dringewesen, er fuhr ja auf freiem Fuß in die sibirische Verbannung) und nunmehr zehntausend aufnehmen mußte, so will dies auch heißen, daß sich jeder Latrinenkübel um das Zwanzigfache hätte vergrößern müssen! Er tat es jedoch nicht …
Unsere russischen Federn berichten in großen Zügen, wir haben ein gerüttelt Maß erlebt und fast nichts davon ist beschrieben und benannt, aber ob es für die westlichen Autoren, die da gewohnt sind, die winzigsten Zellen des Seins unter die Lupe zu halten, die gewonnene Apothekerdosis der Mixtur im Strahlenbündel des Projektors zu schütteln – ob es für sie nicht eine Epopöe darstellte und weitere zehn Bände der «Suche nach der verlorenen Zeit» hergäbe: über die Kümmernisse der menschlichen Seele zu erzählen, wenn die Zelle zwanzigfach überfüllt ist und der Pißkübel fehlt und sie einem zum Austreten nur einmal am Tag
Weitere Kostenlose Bücher