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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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einem Schlag zerstört wird, damit nicht der Schimmer eines Fluchtgedankens in ihm aufkommt, damit er seines neuen Vorteils noch lange nicht gewahr wird: die Steinmauern des Gefängnisses mit den dünnen Brettern eines Viehwagens vertauscht zu haben.
    Der exakte Ablauf der nächtlichen Verladung von tausend Häftlingen kann indes nur gewährleistet werden, wenn das Gefängnis schon am Morgen zuvor mit der Einsammlung und Vorpräparierung der Fracht beginnt, worauf die Wachmannschaft dann den ganzen Tag die Hände voll zu tun hat, diese zu übernehmen und strengstens zu prüfen, wozu die Ausgewählten zwecks Trennung von den im Gefängnis Verbleibenden nicht mehr in die Zellen zurückkehren, sondern viele Stunden lang im Hof, auf der Erde versammelt werden. Für die Häftlinge ist die nächtliche Verladung folglich nur der erleichternde Abschluß eines mühseligen Tages.
    Neben den üblichen Appellen und Kontrollen, neben der Rasur, der Brenne und der Banja besteht der Hauptteil der Transportvorbereitung in der Großfilzung (lies Perlustrierung). Die Abwicklung derselben obliegt nicht dem Gefängnis, sondern der übernehmenden Wachmannschaft. Gemäß den Instruktionen über die roten Transporte, gemäß auch den eigenen operativstrategischen Überlegungen hat die Perlustrierung auf eine Art zu erfolgen, die dem Häftling nicht den geringsten fluchtdienlichen Gegenstand übrigläßt. Eingezogen wird alles, was sticht oder schneidet; alles Bröselige und Pulverige (Zahnputzpulver, Zucker, Salz, Tabak, Tee), auf daß ein Wachsoldat damit nicht geblendet werde; alle Arten von Stricken, Bindfäden, Hosengürtel und dergleichen, denn sie könnten bei der Flucht verwendet werden (und folglich auch Riemen! Darum schneiden sie dem Einbeinigen die Riemen von der Prothese – und der Krüppel packt sie auf die Schulter und hüpft, von den Nebenmännern gestützt, zum Zug).
    Die Durchsuchung beginnt (Kuibyschew, Sommer 1949). Die Nackten stehen in Reih und Glied, halten ihre Sachen und die abgelegte Kleidung in der Hand, umzingelt von einem Haufen lauernder, bewaffneter Soldaten. Es sieht alles so aus, als ginge es nicht zum Abtransport, vielmehr als würde man sie gleich erschießen oder in Gaskammern verbrennen – in solcher Stimmung hört der Mensch ganz von selbst auf, sich um sein Eigentum zu sorgen. Die Wachen tun betont grob und scharf, kein Wort kommt ihnen mit menschlicher Stimme über die Lippen, das ist ja die Absicht: zu schrecken und zu bezwingen. Die Koffer werden umgekippt (die Sachen kullern auf die Erde) und abseits auf einen Haufen geworfen. Zigarettendosen, Brieftaschen und sonstige kleine Häftlings-«Wertsachen» werden herausgefischt und namenlos in ein bereitgestelltes Faß geworfen. (Und eben dies – daß es nicht ein Safe, nicht eine Truhe, nicht eine Kiste, sondern ein Faß ist – bedrückt die Nackten, weiß der Himmel warum, am stärksten: Wozu dann noch protestieren?) Die Nackten schaffen es bestenfalls noch, ihre am Boden verstreuten durchwühlten Klamotten einzusammeln und sie hastig in ein Bündel zu stecken oder in eine Decke zu rollen. Filzstiefel? Kannst du abgeben, her damit, unterschreib in der Liste! (Nicht sie geben dir eine Quittung, nein, du unterschreibst, daß du sie auf den Haufen geworfen hast!) Und wenn dann schon im Dämmerlicht der letzte Lastwagen mit Häftlingen vom Gefängnishof fährt, sehen sie die Konvoisoldaten zum Faß stürzen und aus dem Kofferberg die besten ledernen Stücke herausfischen. Später kommen die Aufseher dran, der Rest der Beute fällt an die ortsansässigen Pridurki.
    Es kümmert die nicht, uns zu wärmen, vor den Kriminellen zu schützen, zu tränken und zu füttern – aber auch schlafen lassen die uns nicht. Tagsüber können die Wachen den ganzen Tag übersehen, dazu die Strecke dahinter: Niemand darauf, der aus dem Zug gesprungen ist; im Finstern aber werden sie von der Wachsamkeit geplagt. Bei jedem nächtlichen Aufenthalt klopfen sie mit ihren langstieligen Holzhämmern (ein gulagisches Standarderzeugnis) jedes Brett der Waggonwände ab: ob es nicht schon angesägt ist? In manchen Stationen wird die Tür aufgerissen, sie leuchten mit einer Laterne oder gar einem Scheinwerfer herein: «Kontrolle!» Für dich bedeutet’s, daß du aufspringen und im Nu bereit sein mußt zu klettern, wohin befohlen: entweder auf die linke oder auf die rechte Seite. Soldaten mit Hämmern steigen in den Waggon (die übrigen bleiben mit MPs im Halbkreis draußen stehen)

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