Der arme Drache (German Edition)
Mensch das tut.
Abgesehen von den Jahreszeiten und Tieren hatte es keine Anzeichen
eines Zeitflusses gegeben, aber mit denen war es für ihn wie mit
den Gestirnen oder dem Himmel: Sie waren zwar ständigem Wandel
unterworfen, aber dabei so selbstverständlich um ihn herum, dass
er ihnen kaum Beachtung widmete. Zumal die Tiere, die am Fuße
seines Hügels lebten, auch von seiner unbewussten Magie zu
zehren schienen, was ihnen ebenfalls ein außergewöhnlich
langes Leben bescherte. Nichts veränderte sich auf Dauer. Solche
philosophischen Konzepte wie Tod und Sterblichkeit, oder sogar das,
was darüber hinaus geschah, waren ihm, wie vieles andere, als
Drache fremd.
"Das
bedeutet, du willst in der Höhle ... ich meine Hütte deines
Großvaters wohnen?" fragte Oliver mit seitlich gelegtem
Kopf.
"Hmm
..." Marie dachte angestrengt nach. Sie schloss dabei die Augen
und legte eine Hand ans Kinn wie ein Kind. "Ich müsste
zumindest immer mal wieder dort nach dem rechten sehen."
Als
sie Olivers Enttäuschung gewahr wurde, fügte sie hastig
hinzu: "Aber keine Sorge. Ich komme immer zu Besuch. Die Hütte
liegt nicht allzu weit entfernt, du hast es ja selbst gesehen."
Vor
Erleichterung schnaubte Oliver einmal heftig aus seinen Nüstern.
"Gut",
sprach er. "Also dann. Ich will dich auf deinem Weg begleiten.
Du hast mir schon so viel beigebracht, warum soll ich nicht auch
herausfinden wie ihr lebt?"
Wieder
einmal nahmen sie Kälte und Frost auf sich, um zur Waldhütte
zu gelangen. Die verschleierte Sonne eröffnete auf besondere
Weise ihre Gegensätze, während sie nebeneinander herliefen,
ihre Schatten und ihre Spuren im Schnee. Sie unterschieden sich so
sehr voneinander, dass sie darüber schmunzeln mussten.
Das
Häuslein am Waldrand lag wegen der letzten Schneefälle
schon halb verborgen unter einer dicken weißen Schicht.
Zwischen die runden Balken waren weiße Streifen geweht worden,
selbst die Tür würde nicht mehr ohne weiteres zu öffnen
sein. Marie wunderte sich, dass der Schnee nicht unberührt war.
Mehrere Spuren führten von Norden heran. Drei Männer, die
über die nördliche Ebene gekommen waren, standen ein paar
Schritte entfernt, direkt an dem frisch ausgehobenen Grab. Sie
diskutierten angeregt über dieser Stätte des Friedens, die
sie, wenn nicht die von Marie angebrachten gekreuzten Stöcke
gewesen wären, wohl unter der weißen Pracht gar nicht
bemerkt haben würden.
Die
Männer waren allesamt recht klein und dünn und hatten
schütteres Haar. Sie waren in schlichte braune Tuniken und
Überwürfe gekleidet. Zwei von ihnen trugen riesige Brillen
auf den Nasen, einer trug einen erhabenen weißen Bart. Einer
der Männer hielt ein aufgeschlagenes Buch in Händen, in dem
er suchend blätterte. Alle schienen von der Kälte arg
gebeutelt zu werden, aber sie hielten sich trotz roter Nasen und
blauer Hände tapfer.
Als
Oliver die Fremden bemerkte, entschied er sich, fürs Erste
innerhalb des Waldes zu verweilen. Noch mehr Menschen innerhalb
dieser kurzen Zeit waren des Guten dann doch etwas zuviel.
Stattdessen trat Marie auf den Grund und Boden ihres Großvaters
und sprach die Männer an:
"Was
macht ihr da am Grabe meines Großvaters?"
Die
Männer, die wie Gelehrte aussahen, fuhren erschrocken zusammen,
denn sie hatten niemanden kommen hören, so sehr waren sie in ihr
Gespräch vertieft gewesen.
Als
sie das Mädchen sahen, überschlugen sie sich mit
Verbeugungen und höflichen Begrüßungsfloskeln.
"Seid
gegrüßt, mein Kind."
"Der
Segen des Königs über Euch."
"Einen
wunderschönen Tag."
Marie
stemmte die Hände in die Hüften und stand abwartend da. Die
Männer sahen sich an, dann trat einer vor. Es war der mit dem
Bart. Sein Gesicht war freundlich.
"Wir
sind Beamte des Königs, mein liebes Kind. Wir waren wegen
verschiedener Geschäfte im Dorf, und dort hörten wir in der
Gaststube, dass niemand den alten Herrn, der hier wohnte, in letzter
Zeit gesehen habe. Da kamen wir, um uns hier einmal umzusehen.
Vielleicht den Alten nach dem werten Befinden zu fragen."
"Wie
es scheint, ist der gute Mann von uns gegangen", sagte der Mann
mit dem Buch und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Grab.
"Ja",
sagte Marie, der Tränen in die Augen stiegen. "Mein
Großvater ist tot."
"Wir
dachten uns", meldete sich der dritte Beamte "dass dieser
Umstand viele Fragen an die Verwaltung aufwirft."
Auf
Maries fragendes Gesicht hin sagten sie nacheinander:
"Wer
trägt seinen Nachlass?"
"Wer
bezahlt die Steuern?"
"Wer
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