Der Arzt von Stalingrad
Worotilow erhob sich steif und abweisend. »Ich dulde keine Meuterei! Auch nicht von Männern, die ich schätze! Die äußere Disziplin hat mit der inneren Einstellung nichts zu tun! Es gab einmal einen Offizier – in Ihrer Wehrmacht, Herr Dr. Böhler –, der sagte: ›Im Dienst bin ich ein Schwein – und ich bin immer im Dienst!‹ Daran habe ich gedacht, als ich Sie bei Kuwakino meldete.« Er hob die Schultern. »Das Leben ist grausam … ich habe mich damit abgefunden …«
Er sah aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. An dem Lastwagen stand die Kasalinsskaja und verhandelte erregt mit einem Leutnant. Worotilow klopfte mit den Fingern auf die schmale hölzerne Fensterbank. »Die Genossin Ärztin will nach Nishnij Balykleij fahren«, sagte er sinnend, als spräche er mit sich selbst. »Sie versucht, den Transportoffizier zu überreden.«
Bei den Wachbaracken herrschte reges Leben. Die Kisten wurden weggeschleppt … Waffen und Munition wurden von den Wachoffizieren gezählt … noch drei Lastwagen kamen die Straße herauf und fuhren brummend in den Hof. Hochgebaute Ford-Sons, noch aus der amerikanischen Materiallieferung an Rußland stammend, gute, schwere, robuste Wagen mit einem V-8-Reihenmotor, winterfest und geländegängig. Die Monatslieferungen für die Wachmannschaften kamen an, die Auffüllung der Kantinen, der Küchenbestände, Wodka traf in großen 20-Liter-Flaschen ein, Sonnenblumenöl, Gefrierfleisch, riesige Mengen mit Eis überzogenen Kohls, Medikamente, Trockenkartoffeln, grobgemahlenes Mehl und große Säcke mit Hirse. Es galt, im Lager 5110/47 675 sowjetische Soldaten und 21 Offiziere zu verpflegen. Von den Wachttürmen riefen die Soldaten den ausladenden Kameraden Witze zu. Michail Pjatjal, der Küchenleiter, erschien mit seiner drallen Bascha und beschwerte sich, daß einige Waren, die er bestellt hatte, nicht mitgekommen waren. Plennis, die Lagerdienst hatten, schleppten die Säcke in die Vorratskeller der großen Küche. Auch Peter Fischer und Karl Georg, kurz darauf auch Hans Sauerbrunn, tauchten inmitten des wimmelnden Menschenhaufens auf und schleppten Kisten und Beutel mit. Dabei stahlen sie, was nur zu stehlen war … Büchsen, Fett und Taschen voll Hirsekörner … im Keller bearbeitete Peter Fischer fluchend ein großes Lendenstück Gefrierfleisch und schnitt nach vielen Versuchen ein fast fünfpfündiges Stück heraus. Er steckte es unter seine Steppjacke, verbiß sich die Schauer, die das gefrorene Fleisch durch seinen Körper jagte, und schlich zur Baracke zurück. Dort stopfte er das Fleisch und zwei Büchsen unter den Strohsack von Karl Eberhard Möller, der in Stalingrad auf einem Bau arbeitete. Hans Sauerbrunn erschien plötzlich mit vier Büchsen Fett und fünf Taschen voll Hirse. Karl Georg stand Schmiere und kundschaftete neue Möglichkeiten aus. Eine Kiste mit Eiern fiel ihm auf – er trat einem Soldaten, der sie in die Küche tragen wollte, in den Hintern und rief: »Dafür hat man mich eingeteilt, du sollst das Mehl schleppen!« Dann wuchtete er die Eierkiste auf seine Schulter und trabte an Pjatjal vorbei, der ihm nachdenklich zusah, in den Keller. Dort lockerte er am unteren Teil der Kiste ein Brett und fing die einzeln herausrollenden Eier auf, bis er alle Taschen vollgestopft hatte. Pfeifend ging er dann wieder an Michail Pjatjal vorbei über den Platz und betätigte sich mit seinen vollen Taschen noch bei der Hirseabladung, ehe er unauffällig in die Baracke entwischte und die Eier unter seinem Bett versteckte.
Hans Sauerbrunn blieb von diesem Augenblick an in der Baracke und bewachte die hereingeholten Schätze. Er zählte und legte eine peinlich genaue Liste an: Neun Dosen Fett, fünf Pfund Gefrierfleisch, Rindslende, etwa fünf Pfund Hirse, 27 Eier, eine Literflasche Wodka – Karl Georg hatte sie an sich genommen, bevor er die Eierkiste sah. Peter Fischer brachte noch einen länglichen Beutel, in dem sich getrocknete Kartoffelschnitzel befanden.
»Jetzt wird gefressen zu Weihnachten«, sagte er grinsend. »Und wenn ich platze … ich fresse so lange, bis ich mit 'm Finger oben dran fühlen kann …«
Michail Pjatjal kam aus dem Keller. Sein Kopf war rot wie eine Tomate. Er hatte das angeschnittene Lendenstück bemerkt und zitterte vor Wut.
»Wer hat getraggen Fleisch?!« brüllte er über den Platz.
Keiner der Plennis antwortete.
»Wer?!«
Die Gefangenen arbeiteten ruhig weiter. Sie schleppten jetzt die Munition in die Wachbaracken. Dabei tauschten
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