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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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doch im Sommer hinaus in die Steppe: du riechst den Atem von Mütterchen Rußland. Er ist herb, voll Natur, er ist unsterblich. Die Blüten leuchten in der Sonne, der Himmel ist weit wie ein endloses blaues Leinentuch, auf das eine unsichtbare Hand vor deinen Augen weiße Rosen stickt …«
    Die Kasalinsskaja sah auf. In ihren Augen stand großes Staunen. »Dr. Kresin …«, sagte sie verblüfft.
    Der Arzt senkte den Kopf. »Verdammt«, schimpfte er. »Was solch ein Weib alles kann! Jetzt werde ich wie Puschkin und besinge das Land …« Er erhob sich und trat gegen den Koffer. Er fiel vom Stuhl, öffnete sich, und der Inhalt flog über die Dielen. »Schluß!« schrie er in seiner üblichen Art. »Du bleibst hier, du streunende Katze! In einer Stunde untersuchst du die Blocks 10 bis 15! Der Bauunternehmer Serge Kislew braucht 25 Mann für den Bau eines Verwaltungsgebäudes bei Krassnaja Sloboda! Sie müssen gesund und kräftig sein! Morgen ist die erste Schicht! Verstanden?!«
    »Ja«, sagte die Kasalinsskaja widerstrebend. »Ja … ich werde untersuchen …«
    Aber als Dr. Kresin fort war, packte sie weiter.
    Die Weihnachtsfeier im Lager 5110/47 war das ergreifendste Fest der Gefangenschaft. Schluchzend trug der kleine Pastor das große, geschnitzte Kruzifix zum Altar, den man auf der Bretterbühne der Stolowaja errichtet hatte. Eine ganze Weile stand er stumm vor dem leidenden Antlitz Christi, ehe er sich umwandte und den Blick über den gefüllten Saal schweifen ließ. Ein Chor, begleitet von den Streichern des Lagerorchesters, sang das Lied von Christian Fürchtegott Geliert ›Dies ist der Tag, den Gott gemacht, sein werd' in aller Welt gedacht; ihn preise, was durch Jesum Christ im Himmel und auf Erden ist … ‹
    Im Hintergrund an der Tür standen einige russische Offiziere und Rotarmisten. Leutnant Markow lehnte an einem der verklebten Fenster, Major Worotilow saß in der ersten Reihe vor der Bühne neben Dr. Kresin, Kuwakino, der Kasalinsskaja, der Tschurilowa und Dr. Böhler. Dr. Schultheiß, das Pflegepersonal und Janina Salja saßen in der zweiten Reihe.
    Der kleine Pastor hob die schmale, ausgedörrte Hand. Seine dünne Stimme zitterte durch den Raum.
    »Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste. Amen.«
    Als sich alle erhoben, um die ersten Bibelworte stehend anzuhören, blieb nur Dr. Kresin sitzen. Sogar Kommissar Kuwakino erhob sich. Als er Kresin sitzen sah, wurde er rot und nahm wieder Platz. Kresin grinste ihn an. Wütend blickte Kuwakino weg auf das Kruzifix. Er mußte plötzlich an seine Mutter denken, die bei der Revolution erschossen wurde. Sie starb mit dem Kreuz auf der Brust …
    Kuwakino senkte den Kopf. Mamuschka, dachte er. In seinem Auge stieg es heiß auf … die leere Höhle des anderen brannte. Mamuschka … was ist aus uns allen geworden …
    Die Gefangenen sangen – laut und inbrünstig, mit gefalteten Händen. Neben dem Kruzifix flackerten vier hohe Kerzen. Michail Pjatjal hatte ranziges Fett für sie aus der Küche gegeben, und ein gefangener Chemiker hatte es mit irgendwelchen Mitteln gehärtet und Kerzen daraus gezogen. Die Tataren im Hintergrund nahmen ihre Mützen ab, die Offiziere starrten auf den Pastor. Leutnant Markow kaute Sonnenblumenkerne und spuckte sie in die Reihen der betenden Gefangenen. Aber als der Pastor für die Gesundheit aller betete, senkte auch er ergriffen den Kopf und legte die Finger zaghaft aneinander. Die Predigt war kurz. Erschütterung verhinderte den Pastor, lange zu sprechen.
    Worotilow sah zu Dr. Kresin hin. Der hatte die Hand der Kasalinsskaja genommen und streichelte sie mit linkischer Zärtlichkeit. Über die Wangen der Ärztin rannen Tränen.
    Dann war der Gottesdienst vorüber … noch einmal sangen die Verdammten von Stalingrad. Das ›Gelobet seist du, Jesu Christ, daß du Mensch geboren bist … ‹ klang wie ein Aufschrei durch den Saal. Die aus Papier gefertigten Sterne und Kugeln an den Tannen, die rund um die Bühne standen, schwankten. Die Gedanken flogen hinaus aus der Enge der Stolowaja … über das verschneite Land … über die Wolga … über Tausende von Kilometern …
    Ein Baum in Köln … ein Baum in Gießen … in Koblenz … in einem kleinen Dorf bei Plön … einer Kleinstadt in Franken … Kerzen flimmerten … Kinderstimmen sangen … Das Wunder der allmächtigen Liebe war gegenwärtig … Es roch nach Gebäck, nach Äpfeln, Nüssen, Tannen …
    Die Köpfe sanken auf die Brust, auf die schmutzigen

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