Der Arzt von Stalingrad
und betrachtete es. »Guter Wollstoff. Sieht man selten im Mütterchen Rußland. Wohl Import?«
»Ja, aus der Türkei.«
»Sehr gut. Janina wird es sich umändern … etwas enger vielleicht … die Länge könnte passen …«
Die Kasalinsskaja blieb stehen und stützte sich auf den Kofferdeckel. »Sind Sie schneekrank, Dr. Kresin?«
»Nicht ganz. Aber einer muß doch die Kleider auftragen, wenn die russische Kapitän-Ärztin Alexandra Kasalinsskaja wegen Zersetzung der sowjetischen Wehrkraft zum Tode verurteilt wird.«
Alexandra ließ die Arme sinken. Eisiger Schrecken durchfuhr sie. Dr. Kresin legte das Kleid wieder zurück und betrachtete einen weißen Büstenhalter aus Atlasseide. »Der dürfte für die Salja zu groß sein. Schade um die Brüste, die er straff hielt! In sie werden sich die Maden zuerst 'reinfressen. Schön fett werden sie werden …«
»Hören Sie auf, Sie Sadist!« schrie die Kasalinsskaja. »Ich fahre zu Sellnow! Auch wenn ich nachher wirklich zum Tode verurteilt werde!« Sie riß ihm den Büstenhalter aus der Hand und warf ihn in den Koffer. »Was geht Sie meine Brust an! Und wenn Millionen Maden in ihr nisten …«
»Es ist nur meine Pflicht, Genossin Kasalinsskaja, Sie darauf hinweisen, daß das, was Sie jetzt vorhaben, Selbstmord ist. Man würde Sie überhaupt gar nicht in das Lager 53/4 hineinlassen. Auch nicht, wenn Sie in Uniform kommen! Der Besuch der Straf- und Schweigelager erfordert einen besonderen, vom Zentralkomitee in Moskau ausgestellten Paß. Selbst ich als Divisionsarzt käme nicht in die Sakljutschonnyis. Sogar die Natschalniks, die die Zwangsarbeiter aussuchen für ihre Betriebe, kommen nicht ins Lager. Sie bekommen Listen und wählen sich daraus die Facharbeiter aus. Eine russische Ärztin« – Dr. Kresin schüttelte den dicken Kopf – »die gilt überhaupt nichts in den Straflagern.«
»Aber ich muß ihn sehen!« schrie die Kasalinsskaja wild und unbeherrscht.
»Die Umgebung der Lager ist ebenfalls gesperrt. Selbst auf dem Eis der Wolga kannst du ihn nicht sehen, mein Täubchen«, sagte Dr. Kresin mild. »Die Posten haben Anweisung, sofort und ohne Anruf zu schießen, wenn sich einer dem Sperrgürtel nähert. Und sie schießen, meine Taigarose … es sind Asiaten, denen ein Leben nichts gilt …«
»Aber ich muß ihn sehen«, sagte sie wie ein ungezogenes Kind. »Er muß weg von dort. Er hat doch nichts getan!«
»Er hat einen Mann halb blind geschlagen. Einen Kommissar der Partei!«
»Kuwakino ist ein Mistvieh!«
»Die erste Vorbedingung, Karriere zu machen.« Dr. Kresin lachte leise. »Meine liebe Alexandraschka – du müßtest doch wissen, wie morsch es wird, je weiter du nach oben gehst. Die wirklichen Kommunisten sind noch die kleinen Leute, denen man so schöne Dinge erzählt und die so blöd sind, es zu glauben. Die nichts anderes gesehen haben als ihre Kate und ihren Lehmofen, auf dem sie im Winter schlafen und wo das älteste Kind zusieht, wie das jüngste entsteht … Sie wissen nicht, wie es außerhalb ihres Dorfes aussieht. Sie können sich nicht denken, daß es überhaupt woanders nicht so aussieht. Und kommen sie mal in solch ein Drecknest wie Kislowo, dann gehen sie durch die Straßen wie durch ein Märchen. Aber hinter Kislowo hört dann die Welt endgültig auf. Das sind die Träger der sowjetischen Idee! Die Männer im Sonnenblumenfeld, die drallen Weiber am Ziehbrunnen, die dreckigen Kinder im Stall, die Matkas, die im Sommer im Heu liegen und wie die Karnickel hecken.« Dr. Kresin schnaubte durch die Nase und stieß den Kofferdeckel zu. »Das sind die Gefolgsleute des Genossen Kommissar Kuwakino … Er muß ein Mistvieh sein … aber deswegen schlägt man ihm noch lange kein Auge aus!«
Hilflos saß die Kasalinsskaja zwischen ihren verstreuten Kleidern. Sie hatte den Kopf in beide Hände gestützt und stierte vor sich auf den rohen Dielenboden. Um ihre Handgelenke lagen noch immer die Pflaster und schmale Gummimanschetten.
»Man sollte Schluß machen«, sagte sie dumpf. »Schluß mit allem! Warum lebt man eigentlich noch?«
»Weil das Leben schön ist, mein Täubchen … trotz allem! Oder war es nicht schön?«
»Es begann, schön zu werden, als Werner bei mir war.«
Dr. Kresin schüttelte wieder den Kopf. »Mein Gott, gibt es nichts anderes als die Männer?« brummte er. »Sieh doch hinaus. Der Wald … wie herrlich steht er im Schnee … Geh zur Wolga, wenn es Frühling ist. Du könntest singen mit dem Rauschen ihrer Wasser. Wandere
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