Der Arzt von Stalingrad
sie gestohlenen Tabak gegen Rubelstücke oder Fett ein. Michail Pjatjal tobte. Er sah Bascha an, die die Listen der ausgeladenen Lebensmittel prüfte. »Sie haben geklaut wie die Raben!« sagte er wild. »Ich lasse das ganze Lager untersuchen! Mein schönes Fleisch!« Und zu den Plennis schrie er grell: »Alles weggg! Ich traggen allein! Weggg!«
Die Kasalinsskaja verhandelte noch immer mit dem jungen Leutnant. Ihre schwarzen Augen brannten.
»Es geht nicht, Genossin Kapitän«, sagte der Leutnant bedauernd. »Ich fahre nach Stalingrad zurück. Ich habe meine Befehle. Und nach Nishnij Balykleij fährt überhaupt keiner von unserer Transportbrigade. Das Lager wird gesondert beliefert, von einer Spezialabteilung der Division. Du müßtest dich an Väterchen General wenden … vielleicht, daß er …«
Er zuckte mit den Achseln. Seine breiten Schulterstücke glänzten in der kalten Wintersonne. Er war ein hübscher Kerl, jung, eben erst von der Kriegsschule in Moskau gekommen, wo Offiziere der Gruppe ›Nationalkomitee Freies Deutschland‹ in Taktik und Kriegsgeschichte ausbildeten. Er war stolz, ein Rotarmist zu sein, und musterte erstaunt und innerlich abweisend die schöne Ärztin, die rangmäßig über ihm stand, aber so viel Interesse für deutsche Gefangene hatte, für diese Deutschen, die den Kommunismus ausrotten wollten, das Idol der russischen Jugend …
»Welche Transportbrigade bringt denn die Sachen nach Lager 53/4?« fragte die Kasalinsskaja. »Sie müssen doch auch von Stalingrad aus verpflegt werden …«
»Soviel ich weiß, unterstehen sie dem Kommando über die Sakljutschonnyis. Das Straflager 53/4 und die Lager der zivilen Strafgefangenen sind verpflegungstechnisch miteinander verbunden. Sie liegen auch nebeneinander an der Straße nach Saratow.« Er hob beide Hände und wandte sich ab. »Ich kann dir nicht helfen, Genossin Kapitän …«
Die Kasalinsskaja drehte sich um und lief über den Platz zurück zum Lazarett. In ihrem Zimmer setzte sie sich hin und überdachte die Lage. Sie sah die Wolga vor sich, das breite Band, das durch die Ebene zog, und an deren Ufer die kleine Stadt Nishnij Balykleij lag, an die Erde hingeduckte Hütten, in denen Schiffer und Fischer wohnten, arme Bauern und einige Händler, die Felle aus den Wäldern aufkauften oder kleine Schleppkähne den Fluß hinauf- und hinabschickten. Eine Stadt ohne Gesicht, eine Siedlung, die im Schnee aussah wie weit verteilte Maulwurfshügel – und nahe bei ihr ein kleines Lager: acht Wachttürme, zehn Baracken, ein hoher doppelter Drahtzaun, elektrisch geladen. Ein Leutnant und 59 Mann. Kalmücken, Tataren, kleine, braune Freiwillige aus Aserbeidschan, Kirgisen und Schlitzäugige vom Baikalsee bei Irkutsk. Der Wind heulte um die Baracken … der Schnee trieb über sie hinweg, das Eis der Wolga krachte. In den Wäldern heulten die hungrigen Wölfe … in der Nacht kamen sie bis an das Lager und umschlichen den Drahtzaun. Die Wölfe, die man von den Türmen aus erschoß, wurden von den anderen zerrissen … das warme Fleisch verschlungen, das Blut aus dem Schnee geleckt … Am Morgen lagen die abgenagten Felle um das Lager …
Die Kasalinsskaja schauderte. Sie sah Sellnow auf dem Eis der Wolga stehen und Löcher in die dicke Decke hacken. Ein Kalmücke stand hinter ihm und beobachtete ihn. »Dawai! Dawai!« schrie er und hieb auf ihn ein …
Alexandra Kasalinsskaja drückte beide Hände gegen die Augen, als könne sie die Bilder damit verscheuchen. Ihr Entschluß stand fest, es gab kein Besinnen mehr, nur noch die Tat, über alle Hemmungen hinweg, über alle Ordnung, über alle Doktrin der Partei und der Roten Armee … Sie sprang auf und packte einen Koffer mit den nötigsten Dingen zusammen. Einige Kleider, Unterwäsche, Seife, einen kleinen, aber sorgfältig gefüllten Medizinkasten, ein chirurgisches Reisebesteck, Injektionsspritzen, Ampullenschachteln und zwei Phiolen mit Zyankali.
Dabei überraschte sie Dr. Kresin. Er sah sich um, nickte über die Unordnung, den ausgeräumten Schrank, die herumliegenden Kleider und den halbgepackten Koffer und setzte sich auf einen noch freien Schemel.
Die Kasalinsskaja sah ihn von der Seite an. Die schwarzen Locken hingen ihr ins Gesicht. Sie spürte die Gefahr, die von Dr. Kresin ausging. Mit bebenden Händen packte sie weiter.
»Sagen Sie jetzt bloß nicht, daß ich hierbleiben soll«, sagte sie dabei.
»Keineswegs. Sie müssen wissen, was Sie tun.« Dr. Kresin hob ein Kleid in die Höhe
Weitere Kostenlose Bücher