Der Arzt von Stalingrad
Und dann im Walde arbeiten oder auf dem Bau oder in der Grube? Das halte ich nicht aus …«
Seine Stimme schwankte. Er sah sich um und blickte in starre, verfallene Gesichter. »Welches Schwein mag wohl den verdammten Schal geklaut haben?!«
Er sprach aus, was in diesem Augenblick Tausende Gefangene dachten …
In der Lazarettbaracke saß Dr. Böhler hinter seinem Tisch und las die Krankenblätter durch, die er gewissenhaft von jedem Patienten angelegt hatte. Das Papier hatte er von Dr. Sergeij Basow Kresin, dem Distriktsarzt, bekommen, der Dr. Böhler einen dreckigen Beamten nannte, es aber doch herausgab.
Dr. Sellnow und Unterarzt Dr. Jens Schultheiß standen am Fenster und blickten hinaus in die Abendsonne, die dort unterging, wo Tausende von Kilometern entfernt ihre Heimat lag.
»Jetzt ist in Berlin sonniger Nachmittag«, meinte Sellnow düster. »Und bei Ihnen in Köln, Dr. Böhler, gehen sie jetzt im Stadtwald bummeln. Schöne Frauen flirten mit netten Männern in teuren englischen Maßanzügen und können es nicht erwarten, bis der Abend kommt … Und wir hier? Es ist zum Kotzen!«
»Sind das Ihre ganzen Sorgen, Werner?« Dr. Böhler sah von den Papieren auf. »Dann sind Sie glücklich …«
»Seit drei Jahren habe ich keine Frau mehr gesehen! Wenn das nicht verrückt macht!«
»Ich habe Ihnen da nichts voraus, Werner …«
»Sie!« Sellnow winkte ab. »Sie wirken auf mich wie ein Heiliger. Wie der selige Franziskus, der sich in einen Ameisenhaufen setzte, um seine fleischliche Lust abzutöten! Ihr Ameisenhaufen ist das Lazarett, sind die Operationen, sind Ihre schreienden Patienten. Sie haben das Zeug zu einem Einsiedler in sich … ich aber bin ein verdammt normaler Mensch, so verflucht normal, daß ich an mich halten muß, um dieses Biest von Kasalinsskaja nicht wie ein Tiger anzufallen …«
Dr. Böhler schüttelte den Kopf und schob die Krankenpapiere zur Seite. »Sie sollten sich zusammennehmen, Werner! Ich verstehe nicht, daß Ihnen die Kohlsuppe die fleischlichen Lüste nicht besser austreibt als ein Ameisenhaufen. Unter den Hunderttausenden in den Lagern dürften Sie jedenfalls ein recht einzigartiger Fall sein …«
Sellnow setzte sich ans Fenster auf einen der Stühle, die Emil Pelz und ein anderer Sanitäter aus Baubrettern gezimmert hatten. Die Farbe hatten sie aus der Küche gestohlen, als man den Kochraum weißte.
»Ich bin jetzt 49 Jahre alt«, sagte er langsam. »Mit 32 habe ich geheiratet, als junger Oberarzt in Kiel. Als ich 35 war, wurde der Junge geboren, zwei Jahre später das Mädel. Mit 40 hatte ich eine Praxis in Frankfurt an der Oder. 1939 ging es 'raus nach Polen, dann Frankreich, dann Norwegen, dann Abstecher nach Griechenland und Italien, zuletzt dieses verfluchte Rußland. Und immer als Truppenarzt … Hauptverbandplatz, vorgeschobener Verbandplatz, Feldlazarett. Neun Jahre, neun verlorene Jahre, die mir keiner wiedergibt! Der Staat nicht, das kommende Leben nicht, und Ihr Gott erst recht nicht! Und wenn ich wieder aus diesem verdammten Stalingrad herauskomme, bin ich ein alter Mann, weißhaarig, klapprig, zu nichts mehr zu gebrauchen.« Er bedeckte die Augen mit den Händen und stöhnte. »Wenn ich daran denke«, sagte er leise, »möchte ich Schluß machen wie der arme Kerl mit dem Tetanus nebenan …«
Dr. Böhler erhob sich und trat neben Sellnow ans offene Fenster.
»Wir müssen uns nicht unterkriegen lassen wie die Tausende, die verzweifeln, wenn die russischen Nächte kommen. Wir sind Ärzte, Werner … nicht nur mit dem Skalpell oder dem Stethoskop. Wir müssen Ruhe ausströmen, Vertrauen, Stärke … Wir müssen etwas vorleben, woran wir selbst nicht glauben. Aber wir müssen so tun, als glaubten wir und wären in diesem Glauben stark für die Zukunft! Wir müssen ein Beispiel sein, Werner, ein Abbild dessen, was jeder gerne sein möchte. Auch –«, er stockte und sah die beiden Ärzte an, »auch, wenn wir selbst dabei zerbrechen! Und dieser Zusammenbruch wiederum muß still sein, in irgendeiner Ecke, verborgen, wie es die Tiere tun, wenn sie sterben. Wir Ärzte, Werner, sind für die Tausende um uns das Licht, dem sie nachgehen und das ihnen den Weg zeigt.«
»Sie hätten Pfarrer werden sollen«, antwortete Sellnow bissig. »Unser Unterarzt sagte überhaupt nichts …«
Jens Schultheiß zuckte mit den Schultern. »Was soll ich sagen?« Er schob die Lippen etwas vor und lächelte wehmütig. »Man hat Sie um Ihr Leben betrogen, Herr Oberarzt, um Ihre
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