Der Arzt von Stalingrad
Utschomi«, sagte er russisch zu dem Dolmetscher. »Fragen Sie … Genosse …«
Es fiel ihm schwer, zu dem kleinen, armseligen Juden Genosse zu sagen und ihn als seinesgleichen anzuerkennen. Aber er würgte es heraus, eingedenk der Ideologie, der er diente und die keine Rassen kannte und keine Hautfarben und keine Nationen, nur den Ruf der roten Fahne der Revolution.
Aaron Utschomi schluckte und sah Hans Sauerbrunn verzweifelt an. Er machte eine vergebliche Anstrengung, streng wie seine Vorgesetzten zu sein, aber er glitt wieder in sein eigentliches Wesen: schüchtern zu sein und sich zu ducken. »Sie wurden gefangen – wann?«
»Am 12. November 1942.«
»Wo?«
»In Stalingrad.«
»Das war ja vor der Kapitulation der deutschen 6. Armee?«
»Ja. Ich war so dumm, mich als Essenholer zu verirren. Ich lief mit 17 Kochgeschirren in die russischen Linien.«
»Sie verirrten sich nicht zufällig … Sie wollten sich verirren?«
Hans Sauerbrunn sah Utschomi verblüfft an. Ehe er diese Auslegung seiner Gefangennahme begriff, nahm Major Worotilow ein wenig freundlicher das Wort. »Sie hatten wie wir alle den Krieg satt und liefen über, was?«
Sauerbrunn schüttelte heftig und ablehnend den Kopf. Der Gedanke, als Überläufer angesehen zu werden, erbitterte ihn maßlos. »So dämlich bin ich nicht!« sagte er laut und erregt. »Überlaufen! Zu den Russen!«
Piotr Markow schob die Unterlippe ein wenig vor. Dann schlug er mit der geballten Faust zu und traf Sauerbrunn zwischen die Augen. Der taumelte, Blut schoß aus seiner Nase und lief in einem dicken Strom über das Kinn, den Hals, in das offene Hemd hinein und färbte die dunklen Brusthaare hellrot.
»Aber nicht doch«, sagte Kommissar Kuwakino gemütlich und unterbrach das Polken an seinen Fingernägeln einen Augenblick. »Vergessen Sie doch nicht, Genosse Leutnant, wer das ist …«
Markow trat zurück. In seinem Gesicht spiegelten sich Wut und tiefe Befriedigung. Er sah das Blut aus dem Gesicht Sauerbrunns rinnen und hätte jauchzen können, daß es deutsches Blut war. Er hatte das unheimliche Verlangen, dieses rinnende Blut zu trinken, um schreien zu können: »Ich fresse einen Deutschen …!«
Hans Sauerbrunn lehnte sich schwankend an die Tischkante, Major Worotilow warf ihm ein großes Taschentuch hin, das Sauerbrunn an die Nase drückte und dabei den Kopf weit in den Nacken zurücklegte. Jakob Aaron Utschomi war den Tränen nahe. Er schluckte mehrmals laut, ehe er weiterfragte.
»Wo sind Sie geboren?«
»In Berlin.«
Der Kommissar sah kurz auf. Seine Stimme war hell und scharf. Wenn er sprach, zuckten seine Augenwinkel, und die dünnen Lippen wölbten sich vor wie bei einem Lama, das im Begriff ist, zu spucken.
»Das ist nicht wahrr!«
»Ich bin in Berlin geboren. Am 19. September 1915!«
»Nicht in München?«
»Nein.«
Hans Sauerbrunn versuchte, das durchblutete Taschentuch von der Nase zu nehmen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte die Nasenwurzel, als er den Kopf senkte. In den Schläfen stachen Millionen Nadeln. Ihm war übel, er hatte das schreckliche Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen – bis er sich sagte, daß sein Magen ja leer sei, weil er die Brotration schon am Morgen gegessen hatte und nun auf die Kohlsuppe des Mittagessens wartete.
»Was war Ihr Vater?«
»Schuhmachermeister.«
»Das ist nicht wahrrr!« sagte Kommissar Kuwakino wieder. »Alles gelogen!« Er legte seine Hände auf die Tischplatte. Anscheinend waren seine Nägel jetzt sauber. In seinen Augen glomm Bosheit auf, als er das blutige Gesicht des Gefangenen betrachtete. »Warum Sie leugnen?«
»Mein Gott …« Hans Sauerbrunn hob die Schultern. Was wollen sie von mir, warum haben sie mich geholt? Wissen sie, daß mein Bruder in der SS war und mein Vater Zellenleiter der Partei? Ich war in der SA, ein kleiner Truppführer, der am Sonntag seine Männer beim Dienst anbrüllte und anschließend mit ihnen um die Wette soff. Manchmal mußten wir mit einer Taxe unsere Zivilsachen kommen lassen, weil wir im ›braunen Ehrenkleid‹ nicht besoffen durch die Straßen gehen konnten. Ob sie das alles wissen? Aber warum fragen sie dann nicht? Warum nicht auch die anderen Millionen, denen es so oder anders erging, die ihren Parteidienst taten und die Hand hoben beim Horst-Wessel-Lied? Wie sangen doch die Pimpfe, diese kleinen, schwarzuniformierten Knaben mit ihrem Fähnlein vorneweg … »Ja, die Fahne ist mehr als der Tod …« Die Fahne, der sie nachlatschten und in den
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