Der Arzt von Stalingrad
schaute auf sein Leben zurück, ob seine Erinnerungen anders aussähen. Aber auch er fand nur marschierende Füße, Uniformen und Kommandos, Fahnen und Standarten, Blechmusik und Heil-Rufe. Er wurde sich des Betruges an seiner Jugend bewußt, und er schwieg, weil er keinen Trost wußte, der Janina und ihn selbst hätte trösten können.
»Ich werde heute abend kommen, Janina«, sagte er leise.
»Ich werde Ihnen von meinem Essen etwas aufheben.« Sie sah ihn an. »Sie sehen so hungrig aus.«
Er lachte etwas gezwungen. »Jetzt geht es. Der Körper gewöhnt sich an die halbe Kost. Zuerst, in den ersten Jahren, da haben wir uns des Nachts vor Schmerzen in den Därmen auf den Strohsäcken gewälzt und gewimmert. Da war eine Scheibe schimmeliges Brot ein Vermögen, um das man hätte morden können. Da aßen wir Schnee, nur um Typhus zu bekommen und in die Krankenstube geschafft zu werden, wo es einen halben Teller Kohlsuppe mehr gab. Bis man es bemerkte und uns einfach liegen ließ. Wir haben in diesen Jahren gesehen, was der Mensch aushält, wenn er eine Hoffnung hat, einen Glauben an das Morgen, den Willen durchzustehen. Jetzt« – er sah an sich herunter, an diesem langen, dürren, ausgemergelten Körper, an diesem Knochengerüst mit pergamentener Haut, gefüllt mit fünf Liter Blut –, »jetzt ist es nur Gewohnheit.« Er biß sich auf die Lippen. »Bis heute abend, Janina«, sagte er mit einer knappen Verbeugung. »Wenn es mir möglich ist …«
Auf dem Gang stand in ihrer Zimmertür die Kasalinsskaja. Sie rauchte eine türkische Zigarette. Der süßliche Rauch lag in Wolken über dem Flur. Ihre roten Lippen glänzten feucht.
»Ist das Vögelchen gefangen?« fragte sie gehässig.
»Es wäre gut, wenn Sie sich um sie kümmern würden, Doktor Kasalinsskaja.« Schultheiß wollte an ihr vorbeigehen, aber sie hielt ihn am Arm fest und zog ihn ganz dicht zu sich heran.
»Janina ist in Sie verliebt«, sagte sie rauh. Ihre Augen sprühten. Sie glich einer Tigerin, sie war wie eine Bestie vor dem Mordsprung. Schultheiß kniff seine Augen zusammen.
»Sie träumen, Doktor. Ich bin nur ein Plenni.«
»Und es wäre gut, wenn Sie das nie vergäßen.« Alexandra warf ihre Zigarette weg und trat sie mit einigen wütenden Fußtritten aus. »Worotilow würde Sie erschießen«, sagte sie kalt.
»Er hat keinen Anlaß dazu.« In Schultheiß stieg heiße Angst auf. Er starrte die Kasalinsskaja an, sie erwiderte seinen Blick, und er las Eifersucht in ihm, Stolz, Lockung, Gier und zitternde Beherrschung.
»Ich werde mit Janina sprechen«, sagte sie halblaut. Ihre Stimme hatte den Klang einer Drohung. »Auch wenn Sie Arzt sind, Dr. Schultheiß, bleiben Sie ein Gefangener, den man zwischen den Fingern zerdrücken kann wie eine Laus. Gehen Sie …«
Gehorsam drehte sich Dr. Schultheiß um und ging seinem Zimmer zu.
Ein Satan! Ein Satan! Ein Satan!
Sein Herz schmerzte, in den Schläfen hämmerte das Blut. Er riß die Tür auf und warf sie krachend hinter sich zu.
Alexandra Kasalinsskaja lächelte.
»Du schöner Blonder …«, murmelte sie.
A US D EM T AGEBUCH DES D R . S CHULTHEISS :
Wie gut ist die Nacht. Wie still, wie sanft, wie willig die Gedanken.
Ich sitze neben dem Bett des jungen Oberfähnrichs. Er schläft. Die dritte Operation hat sich bewährt. Der Chirurg hat nur eine kleine Stauung des Kotes in der Nähe des künstlichen Afters beseitigen müssen, die dem Kranken aber das Leben gekostet hätte, wenn nicht eingeschritten worden wäre. Noch immer fließt Eiter aus der Dränage des operierten Blinddarms. Aber der Puls ist besser. Dr. Kresin hat Traubenzucker und vor allem Strophanthin zur Verfügung gestellt. Das Herz des Kranken hat ausgezeichnet auf die Milligramm-Bruchteile des Herzmittels angesprochen.
Ich bewundere Böhler nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch. Immer ist er zurückhaltend und still, immer zur Stelle, nie erregt. Er ist als Arzt wagemutig und führt einen verbissenen stillen Kampf gegen den Tod, der hier allgegenwärtig ist. Er macht keine großen Worte. Wir alle haben sie verlernt, sind schweigsam geworden und geizig mit den Worten, die man früher so leichtfertig gebrauchte. Ich bin getröstet, wenn ich an Böhlers Seite stehe und auf seine Hände sehe, in seine Augen, auf seine gerade Stirn, auf die schmalen Lippen, die zusammengepreßt sind und sich nur öffnen, wenn er sagt: der nächste … dann möchte ich die Umwelt, in der wir leben müssen, vergessen und große Worte sagen. Was
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