Der Arzt von Stalingrad
Steppe, auf den Stacheldrahtzaun, die Wachttürme und die trocknenden Unterhosen, die Dr. Kresin siebenmal herunterriß und die achtmal wieder in dem leisen Wind wehten.
Major Worotilow hatte auf den Rat Dr. Kresins gehört. Er ließ Salja in Ruhe und besuchte sie nur am Tage, plauderte mit ihr im Zimmer oder ging mit ihr spazieren, ritt auch einmal mit ihr in die Wälder, wo die Haukolonnen der Außenlager sie bestaunten und sich wundersame Märchen von einer neuen Ärztin erzählten. Märchen, die von Lager zu Lager wanderten und ein großes Aufatmen zur Folge hatten, denn man hoffte, Dr. Kasalinsskaja nie mehr zu sehen.
Aber die Kasalinsskaja blieb. Sie zeigte ihre Macht über die verhaßten Deutschen, indem sie drei Simulanten auspeitschen ließ und dabeistand, wie Mongolen ihnen die Haut in Fetzen vom Rücken schlugen. Befriedigt kehrte sie ins Hauptlager zurück und vermied es, Sellnow zu begegnen.
Auch Dr. Schultheiß hielt sich bewußt zurück. Er hatte mit Janina nicht wieder gesprochen. Die Arbeit bei dem Oberfähnrich, dem Sorgenkind des Lazaretts, nahm ihn ganz in Anspruch. Sie war ihm willkommen, sie lenkte die Gedanken in andere Bahnen, und wenn er auch Janina täglich sah – einmal im Reitdreß, einmal in einem weißen, tief ausgeschnittenen Sommerkleid –, so zwang er sich, in ihr nur eine Patientin zu sehen.
Dr. Böhler hatte bei Major Worotilow dreihundert Rubel für Baschas neuen Schal abgeliefert. Worotilow hatte das Geld zuerst mißtrauisch angesehen, dann hatte er es durchgezählt, es zur Seite geschoben und Dr. Böhler einen Stuhl angeboten.
Erstaunt setzte er sich.
»Dreihundert Rubel, tatsächlich«, sagte Major Worotilow. »Ich bewundere die Deutschen. Sie machen aus Dreck Geld! Wo haben Sie es her?«
»Das Lager hat es gesammelt.«
»Auf den Lagergassen liegen keine Rubel, die man sammeln kann. Wo kommt das Geld her?« Worotilow blickte auf den kleinen Berg der Scheine und Münzen. »Es ist erstaunlich, was man aus Kriegsgefangenen, die vier Jahre hinter Stacheldraht sitzen, die hungern und im Winter wie die Fliegen frieren, herausholen kann! Es ist unbegreiflich!« Worotilow sah Doktor Böhler lange in die Augen. »Was muß man tun, um euch Deutsche unterzukriegen? Es geht nicht durch Hunger! Nicht durch Frieren! Nicht durch Schläge! Nicht durch harte Arbeit! Nicht durch Strafen!«
»Warum wollen Sie uns unterkriegen?« Dr. Böhler nahm eine der Zigaretten, die ihm Worotilow anbot. Gierig rauchte er den süßen türkischen Tabak.
»Aus Prinzip!« Worotilow sah nachdenklich auf die Rauchwolken. »Im Herzen bewundern wir euch. Der Deutsche war oft der geschichtliche Lehrmeister der Russen.«
»Wie kann ein bloßes Prinzip – von dem Sie sprechen – solche Grausamkeiten erzeugen?«
»Weil die Grausamkeit die einzige Stärke ist, die wir euch Deutschen voraushaben. Eure gefühlvolle Seele, eure schöne Seele – wie Schiller sagt – steht euch im Weg, aus den geistigen Qualitäten die großen weltpolitischen Entscheidungen zu kristallisieren! Ihr habt einen König Friedrich gehabt, den ihr den Großen nennt. Er eroberte Schlesien … was habt ihr jetzt davon? Ihr habt einen Bismarck gehabt, was ist geblieben von seiner Politik und seinem Geist? Ihr hattet einen Stresemann, einen Adolf Hitler … wo sind sie? Was ist geblieben?« Worotilow lächelte sarkastisch. »Außer unseren göttlichen Künstlern hatten wir Russen nur die Grausamkeit. Zar Iwan … man nennt ihn den Schrecklichen. Zar Peter … er ließ die Hüte auf den Köpfen festnageln, wenn sie nicht schnell genug vor ihm gelüftet wurden. Katharina – Elisabeth – Potemkin. Zar Godunow … Demetrius … Ein Gebirge von Grausamkeit und Blut, Schrecken und Elend, Vergewaltigung der Seele und Knechtung der Freiheit. Aber immer blieb, unberührt, stark über Jahrhunderte Mütterchen Rußland, der singende Schwan des Ostens, die Wiege der Unendlichkeit. Europa ist degeneriert. Es stirbt an seiner Überzüchtung der Intelligenz, es frißt sich selbst auf durch seine der Kontrolle entgleitende geistige Potenz. Rußland ist jung geblieben, es mußte jung bleiben, weil Grausamkeit und Strenge die Jahrhunderte verwischten. Und die Welt gehört den jungen Völkern!«
»Das wäre nach Ihrer Auffassung die moralische Rechtfertigung der Weltrevolution.«
»Sie ist es, Doktor.«
Dr. Böhler drückte seine Zigarette aus und stützte den langen, schmalen Kopf in die rechte Hand. Mit der linken spielte er mit einigen
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