Der Arzt von Stalingrad
Böhler. Major Worotilow brachte ihn im Jeep hin. Als sie in die geschlagene Schneise einbogen und über die Stucken holperten, flog die Ankündigung ihres Kommens schon von Mund zu Mund dem Wagen voraus.
Der Alte … Und ein Plenni. Ein langer, schmaler.
Der Alte hat gute Laune, er lachte im Jeep.
Gute Laune? Verdammter Mist. Wenn der gute Laune hat, können wir wieder Gras fressen … Die Schwachen auf der Sanitätsstation zittern vor Angst. Sie werden die ersten sein, die er beißt. Man kennt das … Die Hilflosen sind die Zielscheiben …
Dr. Böhler sah nach links und rechts. Er schwieg erschüttert, als er in die Gesichter der Männer blickte, die aus den Einschlagstellen herüberschauten.
»Wieviel leben hier?« fragte er kurz vor dem Lager.
»Im Augenblick 184! Das heißt, 184 waren es nach der telefonischen Meldung gestern abend. Wieviel es jetzt noch sind, wird erst die Zählung ergeben …«
Major Worotilow warf seine Zigarette aus dem Wagen. Ein Plenni der an der Straße stand, sah sie liegen. Er blickte dem Wagen nach, bis er in das Lager einfuhr, dann stürzte er sich auf den Stummel und sog gierig daran. Sein Gesicht strahlte.
Der Feldwebel saß mit dickem Schädel in der Wachstube und war erschüttert, plötzlich seinen Major vor sich zu sehen. Er stand schwankend auf und versuchte, strammzustehen. Worotilow trat ihm schweigend ins Gesäß, daß er taumelte.
»Sehen Sie, Doktor«, sagte Major Worotilow. »Er ist schon wieder besoffen! Ich habe es ihm oft verboten … der Schnaps ist so bemessen, daß keiner sich betrinken kann, aber er bekommt immer welchen. Er tauscht ihn ein, er schmuggelt ihn in diese Wildnis, ich weiß nicht wie. Feststeht: Er ist wieder besoffen! Was soll man jetzt anderes tun als die Vorherrschaft der Grausamkeit walten lassen. Er wird es auch tun, wenn er wieder nüchtern ist, er wird noch grausamer sein als ich – und dann zu Ihren Landsleuten. Er wird Erfolg haben …« Worotilow wandte sich an den Feldwebel. »Sie kommen heute zu mir ins Hauptlager! Mit allem Gepäck!«
Der Betrunkene wurde hellwach. Er sprang auf, sein Gesicht war leichenfahl. Er schlotterte und machte Anstalten, dem Offizier vor die Füße zu fallen.
»Genosse Major …«, wimmerte er, »Gnade – Gnade!«
»Heute abend bei mir!« sagte Worotilow unerbittlich.
Der Feldwebel begann zu weinen. Er schlug die Hände vor sein breites, einfältiges, sibirisches Bauerngesicht. Er warf sich herum und greinte wie ein Kind.
»Meine Frau«, jammerte er. »Ich habe sechs Kinder! Und alte gebrechliche Eltern! Gnade, Genosse Major, Gnade …!«
Worotilow schlug ihm ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Hinter ihnen brach der Feldwebel über dem Tisch zusammen. Es war, als bisse er in das Holz, um nicht zu schreien.
»Was werden Sie mit ihm tun?« fragte Dr. Böhler stockend.
»Ich?« Worotilow lächelte mokant. »Nichts. Ich werde ihn lediglich dem Genossen Divisions-Kommissar melden. Der macht ihn kirre, daß er nicht mehr wimmern kann. Wie ein Molch wird er auf dem Bauch kriechen.« Worotilow sah sich um. Am Ausgangstor stand die Wache angetreten. Sie präsentierte.
»Sehen Sie – es hat sich herumgesprochen. Der Feldwebel ist abgeschrieben, das wissen die Kerle da! Jeder hofft jetzt auf Beförderung – und jeder wird grausamer sein als der andere, um befördert zu werden. Grausam gegen Ihre Landsleute, Doktor. Die Kapazität des Lagers 12 ist 190 Mann. Wir müssen es alle drei Monate fast um die Hälfte auffüllen …«
Er trat an seinen Jeep und nickte dem Arzt zu. »Leben Sie wohl«, sagte er ernst. »In acht Tagen komme ich wieder. Dann reden wir weiter über die Ideologie der Kraft. Man wird Ihnen als Arzt nichts tun. Sie können ebenfalls tun, was sie für gut erachten. Sie sollen vor allem beobachten. Und nun – adieu!«
Er trat auf den Starter, der Jeep heulte auf. Dr. Böhler legte eine Hand an die Windschutzscheibe.
»Ich habe noch eine Frage, Major, die mir schon lange am Herzen liegt …«
»Bitte, Doktor …«
»Woher können Sie das fabelhafte Deutsch?«
Worotilow lächelte genießerisch. »Von der Kriegsschule in Moskau, Doktor. Wir hatten dort deutsche Ausbilder …«
Erstarrt sah Dr. Böhler dem Wagen nach, bis er in einer Staubwolke auf der Waldstraße verschwand.
Um die Mittagszeit kam ein kleiner Trupp dreckiger Plennis ins Lager 12 zurück. Verschwitzt, beschmiert mit Harz. Blutend aus kleinen Rißwunden. Ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett führte sie an. Er ging
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