Der Arzt von Stalingrad
daneben her und rauchte. Sein Gewehr war nicht einmal geladen. Von diesem Haufen Elend dachte keiner an Flucht …
Dr. Böhler hatte den Vormittag damit verbracht, das Lager eingehend zu inspizieren. Der Feldwebel leistete ihm dabei Gesellschaft und behandelte ihn wie den eigenen Major.
Die Baracken waren, wie in allen Lagern, sauber. Flöhe und Läuse rechnen nicht zum Schmutz, sie gelten als Haustiere. Auch die Latrine war in Ordnung, nur in der Krankenbaracke war das Primitive zur Gewohnheit geworden. Außer etwas Verbandstoff, einigen alten, immer wieder ausgewaschenen Mullbinden, ein paar Scheren und Pinzetten war nichts vorhanden. Der Sanitäter war nicht ausgebildet, die vier Kranken lagen auf verfaultem Stroh, zugedeckt mit zerschlissenen Baumwolldecken. Aus einem Abortkübel in der Ecke strömte unvorstellbarer Gestank in den Raum.
Dr. Böhler untersuchte die vier Soldaten gründlich. Auf seine Fragen antworteten sie übereinstimmend, daß sie vor Monaten zu Beginn ihrer Krankheit oft Schüttelfrost gehabt hätten. Und im Anschluß daran Fieber. Böhler fragte gar nicht erst nach der Höhe der damaligen Temperaturen. Er wußte, daß kein Thermometer vorhanden war. Er fragte auch nicht nach der Zahl der Pulsschläge bei den Anfällen. Er war sicher, daß der Sanitäter sie nicht gezählt hatte.
Eingehend tastete er die Leber- und Milzgegend der Kranken ab und fand bei allen vieren beide Organe vergrößert.
»Sind hier in der Umgebung Sümpfe?« fragte er den Sanitäter.
»Ja, sechs Kilometer von hier liegt ein breiter Streifen Sumpfland mitten im Wald.«
»Und wird dort gearbeitet?«
»Überall«, nickte der Mann, »unsere Männer fürchten das Gebiet.«
Dr. Böhler schüttelte traurig den Kopf. Diese Kranken mit den abgezehrten, welken Gesichtern, den tiefen Augenhöhlen, den bleichen Lippen hatten zweifellos Malaria. In ihren Organen hatten Millionen und aber Millionen von Malariaerregern überwintert, um alsbald wieder auszubrechen, wenn es heiß wurde.
»Hat Dr. Kasalinsskaja die Kranken untersucht?« Böhler fragte, obwohl er die Antwort im voraus wußte.
Der Sanitäter verzog den Mund. »Das Aas«, sagte er bitter. »Sie hat die Kerls für morgen gesund geschrieben. Tbc-Verdacht ist keine Krankheit, sagte sie.«
»Das ist doch nicht möglich!« rief Böhler entsetzt.
»Hier ist alles möglich! Ich habe sie auf eigene Gefahr in der Baracke behalten. Wenn die Kasalinsskaja kommt, müssen sie sofort hier verschwinden und sich verstecken.«
Dr. Böhler verließ die Krankenbaracke und stand blinzelnd in der grellen Sonne, die auf das Lager prallte. Was konnte er machen?
Der Feldwebel trat hinter ihn. »Was du tun?« fragte er gebrochen.
»Ich bleibe hier. Und länger als acht Tage.«
Der Russe verstand ihn nicht, aber er nickte. Der Plenni war ja ein Freund des Genossen Major. Die Welt stand schief. Der Deutsche ist ein Freund des Kommandanten, und der Feldwebel ist ein Bündel, das man in die Ecke wirft und ausstäubt … In das flache, sibirische Gehirn schlich die uralte Scheu des Sklaven, die Unterwürfigkeit des getretenen Bauern der Taiga … Der Feldwebel wurde ein dienernder Schatten Dr. Böhlers.
Der kleine Trupp der Essenholer stellte sich wieder am Lagertor auf. In ihren Augen lag verblüfftes Erstaunen, als sie Dr. Böhler auf sich zutreten sahen. Er nickte ihnen zu und musterte sie. Ihre gelbbraunen Gesichter waren wie Pergament, das zu lange in der Sonne getrocknet hat.
»Wo kommst 'n du her?« fragte einer aus der Gruppe. »Haste noch keine Arbeit?«
»Noch nicht.«
»Der Alte, der Major, hat dich gebracht, was? Mußt 'n feiner Pinkel sein! Uns ham sie in 'n Hintern getreten und wie 'ne Herde Säue hierhergetrieben. Bist wohl 'n politischer Redner, was? So 'n Kommissar aus der Seydlitz-Gruppe aus Moskau? Gib dir man keine Mühe … Ihr habt gutes Fressen für eure dreckige Politik … wir müssen schuften …«
Der Soldat spuckte aus und wandte sich ab. Da die anderen schwiegen, sprach er die Meinung aller aus. In ihren eingesunkenen Augen brannte ein hektisches Feuer. Sie sahen durch Dr. Böhler hindurch und trotteten wie Hammel los, als das Tor geöffnet wurde und der Soldat dem ersten Mann einen Rippenstoß gab.
Wirklich wie eine Tierherde. Dr. Böhler drehte sich um und ging zu den Baracken zurück, um die vier Kranken noch einmal anzusehen. Der Sanitäter zuckte mit den Schultern, als er gefragt wurde: »Haben Sie wenigstens eine Injektionsspritze hier?«
»Ja.
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