Der Arzt von Stalingrad
Aber was für eine!« Er holte die Spritze aus einem Wandschrank und gab sie Dr. Böhler. Sie war total verschmutzt.
»Das ist eine Sauerei!« sagte Dr. Böhler laut.
»Stimmt!«
»Von Ihnen eine Sauerei! Wenn Sie Sanitäter sein wollen, haben Sie für den Zustand der Geräte als erstes Sorge zu tragen! Wenn das bei mir im Lagerlazarett vorkäme, würde ich Sie sofort ablösen lassen …«
»Das hab' ich mir gedacht!« Der Sanitäter sah den Arzt wütend an. »Da kommt so einer plötzlich her und fängt an, wild zu werden! Jahrelang hat sich keiner um uns gekümmert … und auf einmal haben sie alle die große Fresse!« Er setzte sich auf einen Stuhl in die Ecke und steckte sich eine Zigarette an. »Machen Sie doch Ihren Dreck allein!«
Dr. Böhler stand einen Augenblick wie erstarrt. Dann erinnerte er sich, was Major Worotilow vom Erfolg der Gewalt gesagt hatte. Er trat einen Schritt vor und schrie den Sanitäter an – seit drei Jahren schrie er wieder und kam sich dabei lächerlich und maßlos vor.
»Stehen Sie auf!« brüllte er. »Sie kochen sofort die Spritze aus!«
Der Sanitäter sah ihn durch den Rauch seiner Zigarette an und kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen. »Du kannst mich am Arsch lecken«, sagte er und drehte ihm den Rücken zu.
»Ich bin Ihr Stabsarzt!« sagte Dr. Böhler drohend.
»Dafür darfst du es sogar zweimal …«
»Ich werde dafür sorgen, daß Sie sofort abgelöst werden!«
»Von mir aus!« Der Plenni zuckte mit den Schultern. »Ob schnell oder langsam krepiert – krepiert wird doch im Lager 12!«
Innerlich bebend vor Wut und Scham vor sich selbst, verließ Dr. Böhler die Baracke.
Über die Waldgasse, staubend und laut ratternd, kam ein Jeep. Der Posten riß das Drahttor auf und grüßte. Mit weitem Schwung fuhr der Wagen auf den Lagerplatz.
Eine Gestalt in erdbrauner Uniform mit hohen, schwarzen Juchtenstiefeln sprang elastisch vom Sitz. Über die Uniform wallten lange, schwarze Locken.
Dr. Alexandra Kasalinsskaja sah sich schnell um. Als sie Dr. Böhler vor der Sanitätsbaracke gewahrte, lief sie auf ihn zu und blieb knapp vor ihm stehen. Ihr Atem flog. Ihr wilder Körper bebte.
»Also doch!« schrie sie. »Also doch! Worotilow hat mich nicht belogen! Sie sind hier!«
»Wie Sie sehen, ja.«
»Was wollen Sie hier?«
»Mich umsehen. Und mich vor allem überzeugen, daß eine Dr. Kasalinsskaja ihren Doktortitel zu Unrecht trägt!«
»Ich lasse Sie umbringen«, sagte Alexandra mit unheimlicher Ruhe.
»Bei den deutschen Gefangenen tun Sie es ja laufend.« Doktor Böhler spürte, wie ihn seine Beherrschung verließ, aber er konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er sah der Kasalinsskaja in die gefürchteten Augen und spürte eine innere Befreiung, als er sich sagen hörte: »Was ich hier gesehen habe, hat mit Völkerrecht nichts mehr zu tun!«
»Reden Sie nicht vom Recht!«
»Auch der Gefangene ist ein Mensch! Auch er hat Recht! Das primitive Recht auf Krankenpflege. Ich werde die Zustände melden …«
»Tun Sie es!« Dr. Kasalinsskaja lächelte, aber ihr Lächeln war eine Drohung. »Ich habe mich an die Richtlinien gehalten, die ich aus Moskau bekomme. Wenig Krankschreibungen, scharfe Maßstäbe …«
»Und daß die vier Männer in der Sanitätsbaracke Malaria haben, das haben Sie nicht gesehen? Das haben Sie noch nie gesehen, was? Das kennen Sie gar nicht – das hat man Sie gar nicht gelehrt, oder Sie haben bei der Vorlesung gefehlt, was?«
Die Kasalinsskaja wurde rot. Ihre Augen verengten sich, ihre Lippen wurden weiß vor Erregung.
»Gehen Sie zum Hauptlager zurück … Ich rate es Ihnen. Was ich hier tue, verantworte ich …«
»Vor wem? Vor Gott etwa?«
»Gott?« Die Kasalinsskaja lachte schrill. »Belästigen Sie doch den armen, alten Mann nicht. Er hat Arbeit genug, all die Gebete zu verdauen …«
Dr. Böhlers Trotz wurde Härte. Er ballte die Fäuste.
»Ich bleibe!«
»Wie Sie wollen.« Die Kasalinsskaja betrachtete ihn spöttisch. »Dann werde ich Ihr Hauptlazarett im Lager auflösen lassen …«
Dr. Böhler erbleichte. »Hören Sie, Dr. Kasalinsskaja …«
»Ich werde dieses Hurennest ausräumen!« schrie sie plötzlich unbeherrscht. Ihre Wildheit überwältigte sie. Sie tobte und war nicht mehr Herr über sich. »Alles, alles wird vernichtet werden!«
Dr. Böhler ergriff ihren Arm und drückte ihn fest an sich. Schmerzhaft verzog sich ihr Gesicht, sie wollte sich losreißen, aber er hielt sie eisern fest. »Das nehmen Sie zurück«, sagte
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