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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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so blaß.«
    Er küßte ihre Hände. »Ich liebe dich«, sagte er.
    »Soll ich Dr. Kresin sagen, daß er dich wieder ins Hauptlager holt? Du brauchst Ruhe, mein kleiner Schwan …«
    Er schüttelte den Kopf. »Mir geht es hier gut. Die Arbeit ist zu ertragen. Auch die Verpflegung geht an. Die Arbeitsbrigaden bekommen eine Sonder-Kascha. In der Kantine kann man manches kaufen.« Er legte seine Stirn gegen die ihre. »Ich habe mich so nach dir gesehnt …«
    »Und jetzt bin ich da.«
    »Ja. Jetzt bist du endlich da.«
    »Vierzehn lange Tage und kurze Nächte.« Ihr Atem war heiß. Er trank ihn. Er dachte nicht mehr daran, was er Dr. Kresin gesagt hatte, daß er froh sei, der Kasalinsskaja entronnen zu sein. Sie lag in seinen Armen, er roch ihr Rosenparfüm. Während er sie küßte, verschloß er mit der linken Hand die Tür …
    Vier Tage später erhielt Sellnow Post.
    Auch für ihn war es die erste Nachricht nach vier Jahren. Enge, steile Buchstaben bedeckten die vorgezeichneten Zeilen. Unter ihnen erblickte er die kindlichen Kritzeleien seiner beiden Töchter.
    »Lieber Pappi«, las er.
    Er ließ die Karte sinken und senkte den Kopf. Barhäuptig stand er im Schnee. Die Kasalinsskaja war in die Stadt gefahren, sie wollte Fleisch für einen Festbraten besorgen.
    Lieber Pappi …
    Er zitterte, er konnte nicht weiterlesen. Es war ihm, als habe er das Recht verloren, diese Karte zu empfangen. Den ganzen Vormittag trug er sie mit sich herum und las sie nicht. Die erste Post nach vier Jahren Schweigen. Er dachte an die ersten beiden Jahre, wo er fast verzweifelte, daß die Heimat schwieg, wo sie an der Kommandantur standen und jeden Tag fragten: »Keine Briefe? Keine Karten? Nichts?« Und der Kommandant – damals war es ein russischer Hauptmann mit vollendeten Manieren – schüttelte traurig den Kopf und meinte, daß die Heimat sie vielleicht vergessen hätte, sie, die in Rußland langsam zugrunde gingen … Vergessen? Luise ihn vergessen? Ich warte auf dich – das waren ihre letzten Worte. Er konnte es nicht glauben, er hoffte auf ein Zeichen … zwei, drei, vier Jahre lang … und jetzt war es da … eine Karte, und auf ihr stand: Mein liebster Werner … Lieber Pappi … Und Alexandra war in Stalingrad, um Fleisch zu kaufen.
    In einer Ecke des Hofes, nahe dem Stacheldraht und dem gähnenden Posten las Sellnow die Karte … Und allen geht es gut, und mit aller Liebe hoffen wir, daß es Dir nicht schlechter geht. Marei ist jetzt ein großes Mädchen und hilft mir schon in der Küche. Lisbeth ist in die Schule gekommen und schreibt so schön i und o. Unsere ganze Hoffnung und alle unsere Wünsche gelten nur Deiner Rückkehr. Ich denke immer an Dich, Werner, und weiß erst jetzt, wie sehr ich Dich liebe. Deine Luise … Lieber Pappi! Wir sind alle munter und froh. Jetzt ist Sommer, und ich gehe gleich in den Untersee schwimmen. Ich kann gut schwimmen. Pappi, komm bald wieder. Es küßt Dich Marei und Lisbeth …
    Sellnow lehnte sich gegen die rauhe Mauer. Tränen liefen ihm über die Backen. Luise – Marei – Lisbeth – Als er an Alexandra denken mußte, hatte er einen Augenblick die Versuchung, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen und ein Ende zu machen. Er brauchte sich nur in den Draht fallen zu lassen und zu versuchen, ihn zu erklettern. Dann würde der Posten schießen, und alles, alles war vorüber …
    Zögernd stand er vor dem Zaun. Er starrte empor zu dem Mann im langen braunen Mantel mit der Maschinenpistole vor der Brust. Die Stiefel klapperten auf der Mauer.
    Doch dann siegte die Vernunft. Er steckte die Karte ein und ging langsam zu seinem Steinbau am Ende des Platzes. Vor dem Eingang blieb er stehen. Er hatte Angst, den Raum zu betreten. Was sollte er Alexandra sagen? Sollte er ihr die Karte zeigen? Sie würde sie zerreißen und ihm das Gesicht zerkratzen, sie würde wahnsinnig werden und ihre Rache nicht an ihm, sondern an den Tausenden Plennis auslassen, die ihr wehrlos ausgeliefert waren. Ein reißendes Tier würde sie werden, unbeherrscht, unmenschlich wie in der Liebe zu ihm.
    Um sich Mut zu machen, redete er sich zu, ein Opfer für seine Kameraden zu bringen. Solange er sie liebte, würde sie mild zu allen sein – im Gegensatz zur ersten Zeit, wo sie am Tage eine Furie des Grauens war, um in der Nacht eine Furie der Liebe zu werden. Seit ihrer örtlichen Trennung war sie weicher geworden, fraulicher, milder, duldsamer und verinnerlichter. Das zog ihn wieder zu ihr hin, das machte ihn willenlos.

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