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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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sprechen. Und ich möchte auch nicht, dass du darüber sprichst.«
    Sie streckte ihm die Hand hin.
    »Gib mir dein Wort.«
    Er drückte ihre Hand.
    »Ich kann dir nicht garantieren, dass ich es schaffe«, sagte sie. »Ich habe es bis jetzt nie geschafft. Ich bin allergisch darauf.« Sie legte ihre Hand auf seinen Hals, tastete sich über das Kinn und die Nase zu seiner Stirn vor und griff ihm in die Haare. »Aber bei dir«, flüsterte sie, »schaffe ich es vielleicht. Nicht nur wegen des Kindes. Sondern weil ich wirklich schon lange nicht mehr so taub war.«

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    30
    Lulambo klaubte eine Traubenzuckerpastille aus der Packung, das Zellophan knisterte.
    »Unterzuckerung«, sagte er.
    »Ich weiß«, sagte Jensen.
    Die Kerzenflammen brannten aufrecht und ruhig. Der Fetisch ruhte unter der Fahne Ghanas. Als Lulambo die Fahne wegzog, schwebte eine Hühnerfeder zu Boden; Jensen pflückte sie aus der Luft, alles wiederholte sich.
    »Ein gutes Zeichen«, sagte Lulambo. »Er erkennt Sie. Aber jetzt ist er entspannter. Es wird nicht nötig sein, ihm Angst zu machen.«
    »Erinnern Sie sich?«, fragte Jensen. Er betrachtete die Feder in seiner Hand. »Sie sagten, dass ich die Frau finden und dann töten werde. In gewisser Hinsicht hatten Sie recht.«
    »Nicht ich hatte recht. Sondern er.« Lulambo zerbiss den Traubenzucker, nahm ein kleines Stück davon aus dem Mund und legte es auf den Fetisch.
    Jensen blies die Feder aus seiner Hand. Er fühlte sich leicht wie sie, und er war so entspannt wie der Fetisch.
    »Wenn ich Ilunga Likasi nicht befreit hätte«, sagte er, »wäre sie jetzt in Surinam. Man hätte sie auf irgendeine Plantage verschleppt und gezwungen, dort zu arbeiten. Surinam ist groß, vor allem, wenn man bedenkt, dass nur die Küstenregion besiedelt ist. Es gibt nur wenige Straßen und sehr viel Dschungel. Es ist leicht, einen Menschen gegen seinen Willen irgendwo im Landesinneren festzuhalten. Eines Tages wäre ihr vielleicht die Flucht geglückt, und sie wäre nach Antwerpen zurückgekehrt und alles wäre trotzdem geschehen, nur eben ein oder zwei Jahre später.Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sie befreit habe, und dass Jan De Reuse sie ein paar Tage später getötet hat. Das wäre vielleicht nicht geschehen, wenn sie zwei Jahre später nach Belgien zurückgekehrt wäre. De Reuse hätte ja inzwischen tot sein können, vielleicht wäre er beim Auswechseln einer Glühbirne von der Leiter gestürzt.«
    »Wer weiß«, sagte Lulambo. Er spielte mit der Kaurimuschelkette, er ließ die einzelnen Muscheln durch seine Finger gleiten.
    »Aber auch Sie sind beteiligt«, sagte Jensen. »Wenn Sie mir nicht gesagt hätten, wo ich sie finde, wäre sie jetzt in Surinam. Sie würde höchstwahrscheinlich noch leben. Das soll kein Vorwurf sein. Ich versuche nur, die Dinge zurückzuverfolgen.«
    »Wenn Sie mich nicht gefragt hätten, wo sie ist, hätte er es Ihnen nicht gesagt.« Er deutete mit dem Kinn auf den Fetisch. »Wenn wir beide nicht geboren worden wären, säßen wir jetzt nicht hier. Wenn es die Erde, die Sonne und den Mond nicht gäbe, würden Sie nicht versuchen, die Dinge zurückzuverfolgen. Alles, was geschieht, ist das Ergebnis von allem, das zuvor geschehen ist. Wir sind wie die Muscheln in dieser Kette.«
    »Das sagten Sie bereits beim letzten Mal.«
    »Ich werde es noch oft sagen.«
    Lulambo lächelte hinter seiner großen Brille.
    Er hat recht, dachte Jensen. Jedes neue Ereignis war mit allen Ereignissen, die zuvor stattgefunden hatten, verknüpft. Es war sinnlos, im Nachhinein nach dem Moment zu suchen, in dem alles eine andere Wendung genommen hätte. Wenn Jorn Lachaert vor dreißig Jahren nicht eine junge Frau aus dem Kongo verführt hätte … wenn vor vierzehn Milliarden Jahren nicht das Universum entstanden wäre … wenn ich Annick die Wahrheit hätte sagen können, dachteJensen. Selbstverständlich besaß der Mensch die Freiheit, sich zu entscheiden, sowie die Fähigkeit, die Folgen seiner Entscheidungen zu antizipieren. Jorn Lachaert hätte sich dazu entscheiden können, Maria Likasi aus der Ferne zu begehren. Die Ereignisse hätten sich dann in eine andere Richtung entwickelt, aber nicht notwendigerweise in eine bessere. Ein Zwanzigjähriger, der nach einem selbstverschuldeten Unfall beschloss, fortan nicht mehr so schnell zu fahren, hielt an einem bestimmten Tag bei Rot an einer Kreuzung und sah im Rückspiegel als Letztes in seinem Leben einen Lastwagen auf sich zurasen. Wäre der

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