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Der Atem der Angst (German Edition)

Der Atem der Angst (German Edition)

Titel: Der Atem der Angst (German Edition)
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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und breitete sich milchig über die am Boden liegenden Felle, die leeren geschnitzten Schüsseln und die Jagdgeräte, die an der Wand lehnten. Die Fackel steckte kalt und rußig in einer Felsspalte. Mayas abgebrochener Backenzahn lag auf dem Baumstumpf. Daneben saß reglos Lukas. Seine schwarz glänzenden Augen schauten fragend in den verlassenen Raum hinein. Um ihn herum breitete sich gähnende Stille aus. In seinen Plüschohren verfing sich feiner Staub. Kalt. Es war furchtbar kalt. Draußen senkte sich die Nacht über den rauschenden Wald. Seit den frühen Morgenstunden war Maya unterwegs. Doch diese Nacht kehrte sie nicht nach Hause zurück.

17 . LOUIS
    Versteckt hinter einem mit gelbem Absperrband umwickelten Kiefernstamm, trat Louis von einem Bein aufs andere. Er musste dringend pinkeln– und das schon seit mindestens einer halben Stunde. Das musste er sich jetzt verkneifen, wollte er nicht alle Aufmerksamkeit auf sich lenken. Auf dem Rennrad war er dem Notarztwagen die steilen Windungen heraufgefolgt, bis seine Oberschenkel vor Anstrengung beinahe explodiert waren. In seiner Lunge stach es, als hätte er einen Haufen Stecknadeln verschluckt. Eng an den Kiefernstamm gedrückt, beobachtete er, wie in weiße Papieroveralls gekleidete Typen gelbe Fähnchen in den Waldboden steckten und Fotos machten. Offenbar Leute von der Spurensicherung. Seltsam, dass niemand sein Herz klopfen hörte.
    Einige Polizeibeamte standen um eine Grube herum. Viel konnte Louis nicht erkennen. Ein Haufen Gestrüpp verdeckte die Sicht. Nur den Typen mit den langen Haaren und dem Bart erkannte er wieder. Der hatte Louis damals verhört, nachdem er vor der Billardkneipe mit einem von den Sägewerkern in eine Schlägerei geraten war. Außerdem joggte er ständig in seiner Freizeit auf dem Schlossberg herum. Der Typ war ein echter Maniker. Jetzt wischte er sich mit seinem Jackenärmel über die Augen. Neben ihm stand eine kurzhaarige Frau in rosa Aerobicschuhen und schüttelte den Kopf. Es bestand kein Zweifel, was hier los war. Sie hatten Leonie gefunden. Im Wald. Genau wie seine kleine Schwester damals. Louis zwinkerte. In seinem Kopf rauschte es. Die grauenhafte Dimension dessen, was sich da vor ihm abspielte, was es bedeutete, konnte er, so sehr er sich auch bemühte, nicht erfassen.
    Wäre der Notarztwagen nicht mit Sirene und Blaulicht den Berg raufgerast, hätte Louis gar nicht mitbekommen, was hier los war. Den ganzen Abend über hatte er in seinem Giebelzimmer gesessen und auf dieses Geräusch gewartet. Er hatte geahnt, dass es genau so passieren würde. Warum wusste er nicht. Vielleicht Intuition.
    Das Licht auf dem Notarztwagen rotierte lautlos und warf blaue Farbkleckse auf die Kiefern und sein Gesicht. Seine Knie zitterten. Louis wollte nur noch weg. Aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Wie angewurzelt blieb er stehen. Er konnte nicht anders, er musste hinsehen, was passierte. So als sei er das seiner Schwester schuldig. Oder Michelle. So als wollte er das kleine Mädchen nicht alleine lassen, das die Sanitäter jetzt eilig entgegennahmen und auf eine Trage legten. Ständig verdeckte einer der Notärzte den Kopf. Oder das Gestrüpp. Dann verschwand die Trage mitsamt dem reglosen Körper hinten im Notarztwagen.
    Louis folgte ihm, in sicherem Abstand, wieder die gewundene, stockdunkle Straße hinunter. Obwohl es steil und kurvig bergab ging, trat er heftig in die Pedale. Und wenn er aus der Kurve flog und gegen einen Baumstamm schmetterte– ihm war’s egal. Er hätte nicht einmal den Schmerz gespürt, so voller Hass war er gegen den, der das getan hatte. Gegen den, der ihn in die Düsternis seiner Erinnerungen zurückzwang und ihm jetzt erneut alles nahm, was er sich vorsichtig– mit Michelles Liebe– wieder gestattet hatte: Hoffnung. Hoffnung, dass es doch einmal etwas Gutes geben müsste, das sicher war.
    Michelles kleine Schwester war tot. Nun teilten sie beide ein und dasselbe Schicksal. Aber würde Michelle, wenn das hier alles vorbei war, wenn der Alltag schließlich seine hauchdünne Decke über das Grauen gebreitet hatte, zu ihm zurückkommen? Seit heute Vormittag war ihr Handy ausgeschaltet. Und ihre Eltern hatten es auch nicht geschafft, sie nochmal ans Telefon zu holen. Als hätten sie das überhaupt ernsthaft vorgehabt! Glaubte Michelle am Ende auch, das Unglück seiner Familie sei ansteckend? Machte sie ihn für Ninis Tod verantwortlich? Konnte das sein?
    Das schmale Vorderrad seines Rennrades eierte
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