Der Atem der Angst (German Edition)
würde. In seinen Schläfen pochte es. Jetzt hob sie ihren Arm. Ohne den Blick abzuwenden, griff sie sich langsam unters Kinn und zog das wabbelige Gummiding über den Kopf. Unter der Maske tauchte das Gesicht seiner Mutter auf, die ihn wütend angrinste. » Überraschung! Du warst heute Morgen schon weg, als ich aufgestanden bin.«
Louis machte einen Schritt zurück. » Was …Was soll das?«
Seine Mutter zog ein beleidigtes Gesicht, ihre Augen funkelten seltsam. » Da lag nur noch die Tüte mit Michelles Zeug in deinem Zimmer rum. Kann sie ihre Sachen nicht zusammenhalten?«
Louis schaute sich um. Hinter ihm sammelten sich immer mehr Leute an. Er flüsterte: » Können wir das bitte später besprechen?« In der Stadt war es ein hartnäckiges Gerücht, dass seine Mutter einen Knall hatte. Aber musste sie jetzt auch noch den Beweis antreten?
Offenbar. Sie tippte Louis mit dem Zeigefinger auf die Brust. Erst jetzt sah er, dass sie in der anderen Hand den Rucksack von Leonie hielt, den Michelle vergessen hatte, als sie sich vor zwei Tagen im Kühlraum des Supermarkts getroffen hatten. Eine Ewigkeit war das inzwischen her. » Der Rucksack von ihrer kleinen Schwester lag auch noch in deinem Zimmer. Ist die Kleine immer noch verschwunden?«
» Leonie«, presste Louis zwischen den Zähnen hervor. » Sie heißt Leonie.« Seine Mutter konnte so grässlich sein.
» Richtig.« Bella nickte erfreut. » Leonie. Da dachte ich, ich bringe euch die Sachen in die Schule. Sonst sieht es bei uns aus wie auf der Müllhalde.«
Louis nahm seine Mutter am Arm und wollte sie den Gang hinunterziehen. Es reichte. Sie tat sich hier gerade selbst weh. Er musste sie vor sich selbst beschützen. Aber sie rührte sich nicht vom Fleck. Sie tat besorgt, doch ihre Stimme klang plötzlich kalt und schneidend. Sie fragte: » Hast du Michelle schon gesehen? Ich noch nicht. Dabei hat es schon geklingelt. Nicht dass sie sich verspätet. Oder gar nicht mehr kommt.«
23 . HEIDI
» Du wartest hier, bis ich dich nach dem Unterricht wieder abhole. Hast du mich verstanden?« Heidi hielt direkt vor der Grundschule und blickte über den Rückspiegel Winnie an, der hinten in seinem Gespensteroutfit die Wagentür aufstieß.
» Ja!«
» Du gehst nicht alleine nach Hause!«
» Ja-ha.«
» He!« Sie wandte sich um und hielt ihn am Jackenärmel fest. » Versprochen?«
» Ja! Versprochen!« Winnie nickte genervt. Seine Augen waren rot gerändert. Der arme Knirps hatte die Nacht auf dem Rücksitz verbracht, ohne dass Heidi ihm verraten hatte, warum sie mit ihm durch die Gegend fuhr und Leute rausklingelte. Sogar beim Sägewerk waren sie in der Nacht noch gewesen. Niemand war dort gewesen, um nachzusehen, ob jemand bei ihnen eine Holzkiste in Auftrag gegeben hatte. Und die schlaftrunkene Blumenhändlerin hatte es gegen vier Uhr morgens auch nicht geschafft, sich ins Gedächtnis zu rufen, wer in den letzten Tagen eine pinkfarbene Orchidee bei ihr gekauft hatte.
Heute früh, zwischen zwei Löffeln Cornflakes, hatte Heidi Winnie endlich erklärt, was Leonie zugestoßen war. Er hatte sie mit großen Augen angesehen, aber nichts gesagt. Auf die Frage, ob er sie verstanden habe, hatte Winnie nur mit den Schultern gezuckt. Er war so benommen gewesen, dass er nicht mal mehr hatte sagen können, woher die Schokoriegel kamen, die er in seinem Ranzen hatte.
Am Nachmittag würde Heidi ihm einen Kakao machen. Gemeinsam würden sie die Umzugskartons ausräumen und nebenbei würde sie ihn gründlich vernehmen. Ohne dass er es merkte. Sie hatte noch immer einen Täter zu fangen.
Winnie nahm die Wollmütze vom Kopf, die sie ihm zu Hause aufgesetzt hatte, und knallte die Wagentür zu. Heidi war nicht wohl bei der Sache, dass sie ihn in die Schule gehen ließ, wo die Nachricht, was mit Leonie passiert war, inzwischen längst die Runde gemacht haben mussten. Aber sie war eine alleinerziehende Mutter und sie konnte sich heute Vormittag unmöglich um ihn kümmern.
Sie kurbelte das Fenster herunter. » Setz die Mütze wieder auf, sonst erkältest du dich, und das kann ich momentan nicht gebrauchen.«
Winnie tat, als ob er sie nicht hörte, und lief in seinem Gespensterumhang aufs Schulgebäude zu, vor dem etliche Eltern mit Kerzen in den Händen herumstanden. Einige von ihnen legten kleine Plüschtiere, Fotos und Briefe auf dem Boden vor dem Eingang ab. Es ging also los. St. Golden machte sich für das Entsetzen bereit.
Heidi rief: » Hab dich lieb!«
Dann verschwand
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