Der Atem der Angst (German Edition)
hätte, aber während ihrer ganzen Laufbahn war ihr noch nie ein Reporter derart unverfroren auf die Pelle gerückt.
Heidi schloss hinter sich die gläserne Bürotür. Ohne sich den Schal oder die Winterjacke auszuziehen, drückte sie auf die Kurzwahltaste und rief Madeleine an, obwohl sie ja gerade erst mit ihr gesprochen hatte. » Wo ist die Akte, die gestern Abend noch auf meinem Tisch lag?«
» Die hat sich Henner…«
» Ich will, dass sie sofort wieder hier auf meinem Tisch landet. Danke. Und auch die vom Fall ›Isabel‹.«
» Aber die liegt im Archiv.«
» Na und?«
Hinter der Glasscheibe erhob sich Madeleine augenblicklich und eilte Richtung Archiv, um die gewünschte Akte rauszusuchen. Seufzend ließ sich Heidi auf ihrem Stuhl nieder. Zugegebenermaßen war es seltsam, dass sich der Vater der kleinen Isabel so prompt umgebracht hatte. Aber welches Verhalten war schon normal, wenn einem so etwas Furchtbares widerfuhr? Dennoch konnte es nicht schaden, sich zumindest mal ein Bild vom vergangenen Fall zu machen.
Einige Minuten darauf stand Madeleine wieder in Heidis Büro. Sie hatte sich die Fähigkeit angeeignet, sich vollkommen lautlos durch den Türspalt zu klemmen. Sie legte die beiden roten Pappmappen auf den Schreibtisch und blieb abwartend stehen. Sie war etwas jünger als ihre Chefin, und wenn es nichts zu tun gab, strickte sie haarige Pullover aus hellrosa Mohair oder Angorawolle. » Haben Sie meine Nachrichten auf Ihrem Telefon abgehört?«
Heidi sah auf. » Was für Nachrichten?«
» Ich habe mehrere Nachrichten hinterlassen, dass die Eltern der kleinen Leonie nicht wissen, wo ihre große Tochter ist.«
» Michelle?« Heidi griff nach den Pappordnern, wobei sie den Plastikbecher mit dem Kaffee umkippte, der zum Glück so dickflüssig war, dass er sich nur über einen Teil der Blätter ergoss. » Mist! Wieso erfahre ich das erst jetzt?«
» Ich habe doch…«
» Ja, ja, schon gut.« Heidi zog ihr Handy aus der Jackentasche, dessen Akku keinen Saft mehr hatte.
Madeleine lächelte unsicher. » Sie ist gestern Abend weggegangen, um bei ihrer Freundin Mascha zu übernachten. Als ihre Eltern da heute Vormittag angerufen haben, um ihr zu sagen, dass Leonie gefunden ist und durchkommt, haben sie erfahren, dass Michelle nie bei Mascha angekommen ist. Dabei hatten sie wohl von Maschas Telefon noch eine SMS bekommen, dass Michelle gut bei ihr angekommen sei.«
Hilflos tupfte Heidi mit ihrem Jackenärmel auf den Unterlagen herum. » Wohnt diese Mascha weit von Michelles Elternhaus entfernt?«
Madeleine zupfte sich nervös Wollknötchen vom Pulli. » Nein. Nur um die Ecke. Es ist genau wie damals, oder? Genau wie bei der kleinen Isabel. Nur dass es jetzt die große Schwester ist und nicht der Papa.«
» Wann genau haben Michelles Eltern angerufen?«
» Vor zwanzig Minuten?«
Heidi besah sich ihren kaffeegetränkten Jackenärmel. » Wo ist Henner?«
» Der ist gerade zur Toilette.« Madeleine biss sich auf der Innenwand ihrer Wange herum. » Ich wette, das Mädel ist tot…«
Heidi seufzte und faltete ihre Hände auf der Akte, dazu lächelte sie übertrieben freundlich, wobei sie innerlich von gewaltigen Hitzewellen heimgesucht wurde. » Liebe Madeleine, es ist wichtig, dass wir jetzt alle ruhig bleiben.«
» Es wird ein weiteres kleines Kind sterben.« Madeleine hatte Tränen in den Augen. » Ich weiß es. Ich spüre so was. Bevor Leonie verschwunden ist, hatte ich diesen Traum von einem dunklen Keller. Ich will mir lieber nicht vorstellen…«
Jetzt reichte es Heidi. Das war der erste härtere Fall, der passierte, seit sie in der Stadt Polizistin war, und gleich fingen alle an durchzudrehen. Wo war sie hier gelandet? Im Heulsusenverein? Sie erhob sich von ihrem Stuhl und schob Madeleine aus dem Büro. » Dann stellen Sie es sich einfach nicht vor. Ich versuche das genauso zu machen.«
Madeleine blieb draußen stehen und guckte trübsinnig durch die Glasscheibe herein. Laut fragte sie: » Und was sage ich den Eltern, die hier die ganze Zeit anrufen?«
» Verbinden Sie mich mit ihnen.«
Während Heidi auf den Anruf wartete, klappte sie die Isabel-Akte auf und überflog die Protokolle von damals. Isabel war genau wie Leonie während des Turntrainings verschwunden. Beide Mädchen waren im Wald gefunden worden. Allerdings nicht an denselben Stellen. Beide Mädchen waren gleich alt. Doch nur Leonie hatte eine Blüte im Haar gehabt. In beiden Fällen waren– so wie es jetzt aussah–
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