Der Atem der Angst (German Edition)
»Kann sein. Irgendwoher kenne ich ihn doch. Frag mich nur nicht woher.« Nachdenklich rieb er sich über den Bart. Dann fuhr er fort. » Mir wird es wieder einfallen. Was meinst du? Sollen wir den Halloweenumzug abblasen? Es wird schwierig, den ausreichend abzusichern.«
Heidi zuckte mit den Schultern. » Lass uns erst mal Leonie ansehen. Dann wissen wir mehr. Und vielleicht kommt uns der Umzug gerade recht. Eine Masse von maskierten Kindern, die im Dunkeln mit einer Masse von maskierten Eltern durch die Gassen ziehen. Vielleicht können wir uns das zunutze machen.«
» Was meinst du?« Henner sah Heidi entsetzt an.
» Das weißt du genau.« Heidi drückte die Klinke herunter. » Da sind ein paar Hundert Leute in den Gassen unterwegs. Alle tragen sie Masken. Da ist es ein Leichtes für so einen kranken Charakter, sich unters Volk zu mischen und sich sein nächstes Opfer rauszusuchen.«
Langsam schien Henner zu verstehen. » Du willst doch die Kinder unserer Stadt nicht alle zu Lockvögeln machen!«
Aber da schob Heidi schon die Tür zum Krankenzimmer auf und brachte Henner zum Schweigen. Leonie lag reglos auf dem Bett, mit geschlossenen Augen und Kathetern in den Armen. Daneben stand die Kinderärztin Selena, die ihr schwarzes Haar zu einem dicken Zopf geflochten hatte. Neulich hatte sie noch Winnies Platzwunde auf der Stirn genäht, nachdem er im Garten vom Schuppendach gesprungen war. Als sie die Polizisten sah, desinfizierte sie sich die Hände a m W aschbecken und kam ihnen lächelnd entgegen. » Hallo.«
Heidi reichte ihr die Hand, aber es war Henner, der zuerst fragte. » Wie geht es ihr?«
» Den Umständen entsprechend. Sie wird durchkommen.«
» Ist sie ansprechbar?« fragte Heidi und warf einen beinahe ängstlichen Blick hinüber zu Leonie. Sie wollte zur Sache kommen, bevor ihre Muttergefühle sie überwältigten.
» Das wird noch ein bisschen dauern. Wir haben sie ins künstliche Koma versetzt. Sie ist ziemlich unterkühlt und dehydriert zu uns gekommen. Momentan steht sie noch unter starken Beruhigungsmitteln.« Die Ärztin zog sich Einweghandschuhe an, reichte Heidi auch ein Paar und ging hinüber zum Bett. Sie flüsterte: » Das zähe Mädchen muss ziemlich gekämpft haben, um ihrem Gefängnis zu entkommen. Sie hatte definitiv nicht vor aufzugeben.«
Heidi zwinkerte, um die Tränen am Aufsteigen zu hindern.Leonies Gesicht war noch immer bläulich angelaufen. Ihre Augenlider waren angeschwollen. Unter der Bettdecke lugte ihre Hand hervor, deren Fingerspitzen aufgeschürft und deren Nägel abgebrochen waren.
Selena zog die Decke ein Stück zurück. » Unter ihren Fingernägeln steckten haufenweise Holzsplitter. Ebenso in ihren Fußsohlen. An ihren Ellenbogen und den Knien weist sie ebenfalls Schürfwunden auf.«
Heidi ging um das Bett herum, bemüht, irgendwie diese Bilder loszuwerden, was Leonie alles Furchtbares hatte durchstehen müssen. Würde sich das kleine Mädchen je davon erholen? Sie räusperte sich. » Was noch?«
Die Kinderärztin setzte sich ihre schwarze Hornbrille auf, die an einem leuchtend grünen Band um ihren Hals hing und beugte sich mit einer Lupe über Leonies Gesicht. » Wenn Sie gucken wollen? Hier, winzige Hämatome auf den Nasenflügeln. Ihr Peiniger muss ihr die Nasenflügel zugehalten haben, womöglich um ihr etwas einzuflößen, was sie ganz offenbar nicht trinken wollte.«
» Und was war das?«
» Schnaps.«
» Schnaps?«
» In Kombination mit dem Wirkstoff Diphenydramin. Es wird als Beruhigungsmittel eingesetzt.« Die Ärztin seufzte und fuhr fort: » Ich nehme an, sie hat danach so gut wie nichts bewusst mitbekommen. Sehr wahrscheinlich war sie sogar ohnmächtig. Jedenfalls weist sie keinerlei Verletzungen auf, die auf einen Kampf oder Ähnliches hinweisen. Die extremen Schürfwunden an Ellenbogen, Handgelenken, Knien und Knöcheln stammen mit Sicherheit erst wieder von ihren Versuchen, die Bretter irgendwie aufzustemmen.«
Heidi ging dicht an die Knie des Mädchens heran. » Das heißt, sie ist erst zu Bewusstsein gekommen, als sie…«
Selena nickte. » Als sie in der Kiste war, richtig.«
Das bedeutete, sie hatten nichts, keine Zeugin. Selbst wenn sie einen Verdächtigen haben würden, konnten sie ihn dem Mädchen nicht gegenüberstellen, es würde ihn nicht erkennen. Wenn sie überhaupt irgendwann aus dem Koma aufwachen würde. Heidi versuchte mit aller Macht, das aufsteigende Entsetzen zurückzuhalten. » Okay.«
Die Ärztin wendete Leonie
Weitere Kostenlose Bücher