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Der Atem der Angst (German Edition)

Der Atem der Angst (German Edition)

Titel: Der Atem der Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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diesen einen entsetzlichen Moment, der sein ganzes Leben veränderte. Von diesem Augenblick an war er ein Krüppel gewesen. Einer, der in der Schule gehänselt und gemieden wurde. Einer, mit dem kein Kind spielen wollte. Oh, er hätte nie gedacht, wie grausam Kinder sein konnten! Grausam und unbarmherzig.
    Nie wurde das Bild seiner blutenden Hand blasser und die polternde Stimme seines Großvaters leiser. Im Gegenteil. Je mehr Zeit zwischen damals und heute verstrich, desto deutlicher sah er das Vergangene vor sich. Immer wieder hatte er ungläubig auf die vier kleinen Finger gestarrt, die eben noch an seiner Hand gewesen waren und nun im faserigen Holzstaub auf dem Boden lagen.
    Bis zu seinem Tod war sein Großvater nicht über dieses schreckliche Ereignis hinweggekommen. Er hatte sich daran die Schuld gegeben. Dabei stand der Familie der größte Berg an Unheil noch bevor. Aber das hatte sein Großvater nicht mehr miterlebt. Es hätte ihm das Herz gebrochen. Stattdessen brach es nun seiner Mutter und seinem Vater das Herz. Manche Familien zogen das Unglück immer wieder an. Wie der Honigtopf die Bienen. Um sich an ihm satt zu fressen. Bis der Honig leer war.
    Er hob die rechte Hand, die den Akkubohrer umklammerte. Die Prothese sah beinahe echt aus. Er konnte damit hämmern, sägen, eigentlich alles, was er auch mit einer gesunden Hand hätte tun können. Sein Großvater hatte ja nicht ahnen können, dass die moderne Technik einmal zu so etwas imstande sein würde. Leider konnte er ihn nicht mehr triumphierend mit seiner neuen, gedankengesteuerten Prothesenhand überraschen: » Komm, ich zeig dir, wie gut ich damit tischlern kann.«
    Er lag längst unter der Erde.
    Genau wie sein jüngerer Bruder Gero.
    Fein säuberlich verschraubte er die auf gleiche Länge gesägten Holzlatten, indem er sie mit zwei darauf fixierten Leisten stabilisierte. Die erste Seitenwand war fertig und lehnte nun an der Kellerwand. Dann machte er sich an das Zusammenschrauben der nächsten Holzlatten. Bis zum Nachmittag würde er alle Seitenwände fertiggestellt haben. Morgen würde er den Boden und den Deckel zusammenschrauben. Hinter ihm an der Pinnwand– die letzte, die noch aus dem riesigen Pinnwandbestand übrig geblieben war, die sein Vater als Werbegeschenk mit dem Logo des Sägewerks hatte anfertigen lassen– hing ein altes, verblasstes Foto von einer ehemaligen Mitschülerin aus dem Internat, mit der ihn nichts mehr verband. Nichts außer grenzenlosem, bodenlosem Abscheu. Heute war sie erwachsen. Eine Frau. Heidi.

25 . MAYA
    Maya rutschte den matschigen Hang hinunter. Im umgehängten Lederbeutel steckte Lukas. Nur sein Kopf guckte raus. Diesmal hatte sie ihn nicht in der Höhle zurückgelassen. Für den Fall, dass sie von ihrem Ausflug zum Wasserfall nicht zurückkehrte. Sie war schwach. Immer wieder knickte sie in den Knien ein und arbeitete sich schließlich rückwärts auf allen vieren weiter, wobei sie sich an hervorstehenden Wurzeln und herabhängenden Ästen festhielt, die schmerzhaft in ihre Handinnenfläche schnitten.
    » Ich pass auf uns auf«, keuchte sie. » Ich pass auf.«
    Dieser verdammte Überlebenswille raubte ihr den letzten Nerv. Warum gab sie nicht einfach auf? Es wäre so einfach gewesen. In der Höhle zu liegen und auf den Tod zu warten. Stattdessen kroch sie hier herum und lief Gefahr, abzustürzen und sich sonst was zu brechen. Sie wollte in Richtung Wasserfall, wo der Boden dicht mit Farn überzogen war. Von ihrem Vater wusste sie, dass in den Farnwurzeln Nerven- und Muskelgifte enthalten waren. Gegen die tödliche Entzündung in ihrem Kiefer.
    » Vielleicht soll ich jetzt noch nicht sterben. Vielleicht ist in ein paar Tagen alles wieder beim Alten. Was meinst du?«
    Lukas antwortete schon eine ganze Weile nicht mehr. Als glaubte er nicht an das, was Maya sagte. Ihr war heiß unter dem Fellumhang. Der Beutel schlug ihr in die Kniekehlen.
    » Gleich geht’s weiter. Ich muss nur kurz verschnaufen.«
    Einen Augenblick lang verharrte Maya in der Hocke und sah sich um. Der Nebel hing schwer zwischen den Kiefern, durch die Wipfel brannte orangefarben die Herbstsonne herunter. Von fern hörte sie das herabstürzende Wasser. Der Wald erschien ihr mit einem Mal so unwirklich. Als bewegte sie sich durch einen Traum, aus dem sie nur aufzuwachen brauchte. In ihrer geschwollenen Wange pochte es. Hoh! Sie zog die kalte Luft durch die Nase ein. Mit den Fingerspitzen drückte sie auf den dünnen Verband, der die

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