Der Atem der Angst (German Edition)
können. Diese Tatsache verschaffte ihr ein seltsames Hochgefühl, auch wenn sie wusste, dass sie besser auf der Hut sein sollte. Mit einem Mal fühlte sie sich sehr lebendig. Mit einem Mal wusste sie, dass sie all die Jahre nicht umsonst im Wald verbracht hatte. Ihr Vater hatte richtig entschieden. Doch jetzt sollte sie besser von hier verschwinden. Sie stand in der Mitte einer lichtungsgroßen Zielscheibe, auf die die Widerwärtigen bestimmt längst ihre Geschosse gerichtet hatten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Erste von ihnen den Abzug drückte.
26 . HEIDI
» Irgendwie kommt mir der Typ bekannt vor.« Heidi folgte Henner den Flur der Kinderintensivstation hinunter. » Aber egal wie sehr ich in meinem Unterbewusstsein wühle, ich komme nicht drauf, wo ich ihn schon mal gesehen habe.« In ihrer Hand flatterte das Phantombild des Mannes, der in der Blumenhandlung die pinkfarbene Orchidee gekauft hatte.
» Aus St. Golden stammt er jedenfalls nicht.« Henner warf einen flüchtigen Blick auf die Zeichnung und legte dann seine Hand auf die Klinke, um die Zimmertür zu öffnen, hinter der Leonie lag.
» Bist du dir da so sicher?« Heidi blieb stehen und sah ihren Kollegen durchdringend an. » Wer weiß? Vielleicht ist dieser Mann hier sehr lange nicht mehr vor die Tür gegangen und du und die anderen haben ihn inzwischen vergessen. Oder er hat sich im Laufe der Jahre stark verändert.«
Henner wich Heidis bohrendem Blick aus. » Das könnte natürlich sein. Bei mir klingelt nur nichts, wenn ich mir das Bild ansehe. Können wir jetzt reingehen?«
» Warte.« Heidi hielt ihn am Jackenärmel fest. » Lass uns nur kurz zusammenfassen, was wir haben.«
Ihr Kollege starrte sie irritiert an. » Jetzt?«
» Ja.« Heidi setzte ein bemühtes Lächeln auf. » Wir machen hier doch keinen Krankenbesuch. Uns fehlen noch fast alle Teile des Puzzles, und wir müssen wissen, nach welchen Hinweisen wir bei Leonie suchen.«
» Okay.« Henner lehnte sich an die Flurwand und sah Heidi abwartend an. » Schieß los.«
In diesem Moment öffnete sich die Schwingtür am Ende des Flures. Ein Polizist mit einem Kaffeebecher trottete herein. Er nickte Heidi und Henner kurz zu und setzte sich dann auf einen Stuhl gegenüber.
Heidi schaute ihn entgeistert an. » Sie wissen schon, dass Sie hier auf unsere wichtigste Zeugin aufpassen, oder?«
Teilnahmslos schaute der Mann auf. » Klar. Wieso?«
» Weil Sie es gerade verdammt nochmal nicht getan haben!«
Da schob sich Henner von der Seite wie eine Wand zwischen Heidi und den Mann. » Lass gut sein. Er hat sich nur einen Kaffee geholt.«
Heidi war jetzt in der Stimmung, den Mann richtig zusammenzufalten, sie versuchte an Henner vorbeizusehen, aber er war so groß und breit, dass sie den Mann nicht mehr in den Blick bekam. Verärgert zog sie ihren Notizblock hervor und blätterte darin: » Also gut, wo waren wir? Vor sieben Jahren ist exakt das gleiche Verbrechen passiert. Bis auf die Orchidee im Haar lief alles ganz genauso ab. Das Mädchen verschwand– genau wie Leonie– aus der Turnstunde und wurde einige Tage später im Wald aufgefunden. Kurz zuvor erhängte sich der Vater. Nun ist Michelle, Leonies große Schwester, verschwunden. Und zwar, so wie es aussieht, ebenfalls, bevor Leonie aufgefunden wurde. Bisher ist die Suche nach Michelle ergebnislos. Ihre Freundin Mascha hat von ihrem Handy keine SMS an die Eltern verschickt. Die Nummer, von der die SMS abging, wird gerade geprüft. Bei ihrem Freund Louis ist Michelle auch nicht aufgetaucht. Seiner Aussage nach hat er sie gestern Morgen zum letzten Mal gesehen. Außerdem«, Heidi hielt die Phantomzeichnung hoch, » wissen wir, dass dieser Mann vor ein paar Tagen in der Stadt eine Orchidee gekauft hat, wie sie die Kleine im Haar trug.«
Henner betrachtete das Bild nun etwas genauer, auf der ein Mann mittleren Alters zu sehen war. Die Blumenhändlerin hatte ihn einigermaßen genau beschreiben können, aber nicht gekannt. Es war jedenfalls keiner von ihren Stammkunden, womöglich war er nicht aus der Gegend. Henner nickte. » Er ist offenbar im selben Alter wie Leonies und Isabels Eltern. Höchstens ein paar Jahre älter. Meinst du, dass sie sich von irgendwoher kennen?«
Heidi faltete das Phantombild zusammen. » Exakt. Nur: woher?«
» Darf ich das Bild noch mal sehen?«
Heidi faltete die Zeichnung wieder auseinander. » Sicher.«
Henner holte tief Luft und starrte auf die Zeichnung. Dann blickte er Heidi nachdenklich an.
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