Der Atem der Angst (German Edition)
vorsichtig auf die Seite. » Nur diese Stelle hier hinten kann womöglich Aufschluss über den Täter geben.«
Heidi trat dicht an Selena heran, die nun Leonies Haare im Nacken zur Seite nahm und auf einen dunkelblauen Striemen wies, der sich quer über ihren Nacken zog. » Ein Bluterguss. Ich nehme an, an dieser Stelle ist sie mit Wucht au f d em Kistenrand aufgeschlagen, als sie hineingehoben wur d e.«
Heidi vollendete den Gedanken: » Was bedeutet, dass der Täter ein ziemlicher Grobian gewesen sein muss. Oder aber nicht sonderlich stark. Sieht fast so aus, als sei sie ihm weggerutscht.«
Henner, der sich bisher die Einzelheiten notiert hatte, mischte sich nun ebenfalls ins Gespräch ein: » Haben Sie Genmaterial an den Nasenflügeln gefunden?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf und nahm ihre Brille wieder ab: » Der Täter hat offenbar Handschuhe getragen. Da ist nichts. Gar nichts. Es ist anzunehmen, dass das Kind seinen Peiniger kannte. Es wurde weder fest an den Handgelenken gepackt, noch grob am Arm gezogen. Alles muss sehr sanft abgelaufen sein, mal abgesehen vom Einflößen des Alkohols.«
Heidi betrachtete das fahle Gesicht des kleinen Mädchens, das nun wieder auf dem Rücken lag, den Kopf leicht abgestützt. » Und sie hat sich dabei nicht gewehrt? Das ist doch seltsam.«
Die Ärztin zuckte mit den Schultern. » Nicht unbedingt. Ich vermute, die erste Schnapsladung wurde ihr in einen Saft gemixt. Als sie schlapp war, hat sie die zweite Dosis bekommen. Sobald sie ansprechbar ist, melden wir uns bei Ihnen. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Schockerlebnisse werden von den betroffenen Personen teilweise derart abgespalten, dass sie sich an nichts mehr erinnern können.«
Heidi pustete die Luft aus. Sie musste hier raus. » Okay, danke.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch eineinhalb Stunden bis Schulschluss. Sie wollte Winnie keine Minute vor der Schule warten lassen. Außerdem musste sie herausfinden, was er über die Schokoriegel wusste. » Dann hoffen wir mal, dass es bei diesem einen Kind bleibt.«
» Augenblick noch!« Die Ärztin drehte sich um und nahm eine durchsichtige Tüte von der Ablage. » Hier. Das hatte die Kleine um ihren Fuß gewickelt.«
Heidi hielt die Tüte hoch ins Licht. Da drin lag ein silbernes Amulett an einer goldenen Kette. Das ovale Gehäuse war aufgeklappt. Henner trat von hinten dicht an Heidi heran und nahm ihr die Tüte aus der Hand. » Darf ich mal?!«
Er zog die Plastikfolie eng über das schwarz-weiße Foto im Amulett. Es zeigte ein junges Mädchen mit blonden langen Haaren und großen dunklen Augen. Henner starrte für ein paar Sekunden darauf. Dann ließ er die Tüte sinken. » Ich glaub’s nicht. Das ist Birgit. Dieses Mädel wird seit über fünfundzwanzig Jahren vermisst.«
27 . LOUIS
Louis kam mit umgebundenem Handtuch und nassem Oberkörper aus der Dusche zurück in sein Zimmer und drückte hinter sich die Tür zu. Bis eben hatte er auf dem Dach die undichte Stelle repariert, durch die seit Wochen der Regen sickerte. Das Haus begann langsam morsch zu werden. Irgendwann würde er sich auch noch um den Schimmel im Keller kümmern müssen. Mit aller Macht versuchte er sich durch irgendwelche Tätigkeiten abzulenken. Nur nicht tatenlos rumsitzen, sonst drehte er durch. Wo war Michelle? Alle möglichen Orte hatte er längst mit dem Rad abgeklappert. War ihr etwas zugestoßen? Hielt sie sich versteckt? Suchte sie Leonie auf eigene Faust? Sie hatte sich ihm doch sonst immer anvertraut. Ratlos starrte er zur selbst gebastelten Collage, die an der Zimmertür klebte. Ein Bild aus lauter Bildern. Michelle hatte es ihm zum Jahrestag ihrer Liebe geschenkt. Von unzähligen Handyfotos grinste ihm seine Freundin entgegen. In kleine Sprechblasen hatte sie geschrieben: » Ich liebe dich.« Oder: » Für immer dein.«
Unten an der Haustür klingelte es Sturm. Keine zwanzig Sekunden später flog die Zimmertür auf und seine Mutter stand in ihren ausgebeulten Joggingklamotten vor ihm. » Lou!«, keuchte sie. » Unten stehen Michelles Eltern. Die fragen, ob du weißt, wo ihre Tochter ist.«
Louis schnaufte wütend. » Ich habe der Polizei doch schon gesagt: Ich weiß nichts!« Schnell schlüpfte er in seine Jeans, während Bella ihre Augen unruhig durch das Zimmer schweifen ließ. Über den Schreibtisch unterm Dachfenster, auf dem sich Schulbücher stapelten, rüber zum windschiefen Kleiderschrank, den Louis notdürftig mit ein paar angenagelten
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