Der Atem der Angst (German Edition)
dass sein achtjähriger Sohn verschwunden war. Und zwar, weil sie ihn nicht rechtzeitig von der Schule abgeholt hatte. Sie war die schlimmste Mutter der Welt. Mit ihrem Rund-um-die-Uhr-Job bekam sie es einfach nicht hin, ein Kind allein großzuziehen. Geschweige denn, eine Familie zusammenzuhalten. Zu all dem war sie unfähig. Sie hätte auf ihre Eltern hören und Grundschullehrerin werden sollen. Wie war sie überhaupt auf den Gedanken gekommen, zur Polizei zu gehen? Vermutlich hatte sie früher einmal zu oft » Agentin mit Herz« gesehen. Die hatte es auch geschafft, als alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Jungs Verbrechen aufzuklären. Guten Morgen, Heidi! Das eine war das echte Leben. Das andere eine Fernsehserie. Schön, dass sie das jetzt auch begriff.
Und nun würde Eric sicher seinen Sohn mitnehmen wollen. Vorausgesetzt, sie fand ihren Winnie-Bär überhaupt wieder. Natürlich fand sie ihn wieder! Warum sollte sie ihn nicht wiederfinden? Wo konnte so ein kleiner Junge sein? Er war klug genug, mit niemandem mitzugehen. Genau das Gleiche hätte sie allerdings auch von Leonie geglaubt. Was, wenn das Böse ihn längst in seiner Gewalt hatte? Was, wenn er nach ihr schrie und sie ihn nicht hörte? Was, wenn er weinte und sie ihn nicht halten konnte? Was, wenn er furchtbare Angst hatte und sie ihn nicht retten konnte? Was passierte in dieser Stadt?
Sie hätte niemals hierher ziehen dürfen. Wenn Eric sie nur nicht verlassen hätte. Dann hätte sie keinen neuen Job annehmen müssen, um ihm aus dem Weg zu gehen. Verdammter Mist! Sie liebte ihn noch immer. Aber was spielte das für eine Rolle? Wenn sie ihren Sohn nicht in den nächsten fünf Minuten fand.
Heidi blickte auf die Uhr. Gleich würde Eric bei ihnen vor der Haustür stehen. So ein Zusammentreffen allein war schon stressig genug. Es würde wehtun. Und jetzt war sie auch noch schuld, wenn ihrem Sohn etwas passiert war. Von ihren Kollegen, die im Halloweengetümmel Ausschau nach Winnie hielten, bekam sie auch keine Rückmeldung. Unter all den Untoten war es unmöglich, den richtigen kleinen Jungen im Gespensterkostüm zu finden. Es war ein Albtraum. Ein grausiger Albtraum, der nicht sein durfte. Der so unwirklich und unbeherrschbar war, dass sie sich verfluchte, jemals Mutter geworden zu sein. Sollte Winnie etwas zugestoßen sein, würde sie das nicht überleben. Er war ihr Sonnenschein. Ihr kleiner Liebling. Der Grund, warum sie auf der Welt war. Und nicht ihr Job! Das wurde ihr mit einem Mal schlagartig bewusst. Was, wenn es für diese Einsicht zu spät war?
Als Heidi auf Höhe der Sporthalle in eine dunkle, mit Kopfsteinen gepflasterte Gasse abbiegen wollte, entdeckte sie vor sich eine kleine Gestalt, die im Gespensterkostüm, ohne Mütze, die Hauptstraße heruntergetrottet kam. In der Hand einen Beutel.
Heidis Herz wummerte.
Winnie!
Es war Winnie-Bär. Heidi kuppelte und drückte das Gaspedal runter. In null Komma nichts hatte sie ihren Sohn erreicht. Sie sprang aus dem Wagen, rannte um die Kühlerhaube herum, auf den kleinen Jungen zu.
» Schatz! Winnie!«
Winnie blieb reglos stehen. Mit müden Augen sah er seine Mutter an, die sich vor ihn hinkniete und ihn an den Armen festhielt.
» Ist alles in Ordnung?«
Winnie nickte matt. » Denke schon.«
Heidi strich ihm die Haare aus der Stirn. » Wo ist deine Mütze?«
Ihr Sohn zuckte mit den Schultern. » Weiß ich nicht.«
» Wo warst du denn? Ich habe dich überall gesucht.«
» Und warum hast du mich dann nicht gefunden?«
» Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich an den falschen Stellen gesucht.«
» Dann bist du keine gute Polizistin.«
Heidi lächelte, mit Tränen in den Augen. » Und keine gute Mutter.«
» Jedenfalls bist du nicht zur Schule gekommen, um mich abzuholen.«
» Schatz, ich wurde aufgehalten. Es tut mir leid. Ich war nur zwanzig Minuten zu spät. Es tut mir so schrecklich leid.«
» Mindestens eine halbe Stunde.« Winnie sah an Heidi vorbei, die nächtliche Straße hinunter. Von fern war das Grölen und die Musik des Halloweenumzuges zu hören.
» Hey.« Heidi zwang ihren Sohn, sie anzusehen. » Verzeihst du mir noch mal? Das wird nie wieder vorkommen. Ich versprech’s dir.«
Winnie nickte gelangweilt und machte sich los. » Ich bin müde Mama.«
Heidi stand wieder auf und legte den Arm um ihren kleinen Sohn, der ihr nun zum Wagen folgte und sich hinten auf die Rückbank setzte. Sie schnallte ihn an. » Woher hast du die Süßigkeiten?«
» Ist doch
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